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Während er sich zu den anderen Parteien im Konferenzraum wendet, Henning van Riet und Tobias Resch, streicht sich Wiget übers Kinn, eine Gewohnheit, die er, auch nachdem er sich vor zwei Jahren den Bart abrasierte, beibehalten hat.

Er sagt: „Und man darf nicht vergessen, Stefan und ich kennen den Gründer, Mark Huggan, persönlich. Er hat mit uns in Regensburg studiert. Er ist integer. Es sind keine Fälle von Betrug oder irgendwelchen Schweinereien mit den Kindern bekannt. Es ist unwahrscheinlich, daß unser Name unter ihrem Namen leidet. Es ist wahrscheinlich, daß ihr Name auf unseren Namen einen positiven Effekt hat.“

Resch sagt, daß es seitens der Aktionäre auch keine Einwände gegeben habe.

Van Riet sagt, daß das drei gegen einen sei und daß die Spendensache jetzt ohnehin nicht so wichtig sei, ihm sei mehr daran gelegen, über Marckelsheim zu sprechen.

Frau Beck neben Wallner fragt, was sie jetzt ins Protokoll schreiben solle.

Wallner sagt, daß sie schreiben solle, der Aufsichtsrat habe eine Spende in Höhe von soundso viel Euro für die Stiftung „Kinderdörfer“ beschlossen.

Van Riet sagt, die Fakten seien die: Die Firma in Marckelsheim sei halb so groß wie die Firma hier in Cham. Bis vor zehn Jahren sei Marckelsheim der einzige Hersteller landwirtschaftlicher Geräte im Elsaß gewesen. Vor zehn Jahren sei eine Firma für landwirtschaftliche Geräte in Straßburg gegründet worden. Seit zehn Jahren laufe Straßburg Markkelsheim den Rang ab. Im Elsaß werde vorrangig Getreide und Mais angepflanzt. Neuerdings Erdnüsse.

Van Riet hat eine stark norddeutsche und insbesondere hamburgische Aussprache. Vor drei Jahren haben Wallner und Wiget Anteile an van Riets Unternehmen für landwirtschaftliche Geräte in Hamburg erworben. Van Riet ist dadurch Mitglied im neu entstandenen Aufsichtsrat der fusionierten Firmen und kommt regelmäßig zu den Sitzungen nach Cham. In seinen Wortschatz haben sich seitdem bayerische Ausdrücke gemischt, die er aber norddeutsch ausspricht. Van Riet sagt „Grät“, Singular, statt „Geräte“, Plural.

Wiget hatte Wallner einige Tage vor der Sitzung gesagt, daß van Riet und er eine mögliche Kandidatin für eine Tochterfirma gefunden hätten. Wallner war überrascht gewesen. Er hatte zwar das Thema Tochterfirma immer wieder in Gesprächen mit Wiget in den Raum gestellt, ohne aber konkret zu werden. Wiget mußte mit van Riet wegen dem Thema Tochterfirma in Kontakt gestanden haben, ohne vorher Wallner davon zu unterrichten. Wiget, der weiterhin die Hände auf der Tischplatte gefaltet hat, wendet sich jetzt zu Wallner und Resch, während er hin und wieder kurz zu van Riet blickt, der, die Arme auf der Brust verschränkt, nickt.

Wiget sagt: „Marckelsheim wird in einem Monat Insolvenz anmelden. Van Riet und ich wollen nach Marckelsheim fahren und uns vor Ort über die Gegebenheiten der Firma ein Bild machen.“

Resch hat einen schwarzen Bart und eine hohe Stimme.

Er sagt: „Seitens der Aktionäre wäre das in Ordnung. Die Mehrzahl der Aktionäre, mit denen ich darüber gesprochen habe, hat gesagt, Marckelsheim sei eine Möglichkeit.“

Um die Meinung der Aktionäre eingeholt zu haben, denen seit Wallners und Wigets Börsengang ein Viertel der Firma gehört, muß auch Resch bereits im voraus von Wiget oder van Riet über die Pläne, sich um eine Tochterfirma zu vergrößern, unterrichtet worden sein. Nach der Sitzung steht Wallner bei Resch am Konferenztisch und fragt: „Und fahren Sie heute noch nach Frankfurt, oder übernachten Sie hier?“ Wiget steht neben van Riet bei der Tür und unterhält sich mit ihm.

Wallner kann nicht verstehen, was sie reden.

Fast wäre Wallner bei der Firmenausfahrt nicht nach rechts abgebogen, zu der Villa, die sie sich im Jahr davor in der Pappelallee in Chammünster gekauft hatten, sondern nach links, nach Siechen. Er fährt an Wigets Anwesen vorbei und holt schon einmal die Fernbedienung für das grüne Gatter der Einfahrt heraus.

Ana sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer, sie hat die Beine auf das Wohnzimmertischchen hochgelegt, das sie von ihrer Mutter geerbt hat. Der Fernseher läuft ohne Ton.

Ana sagt: „Ich bin noch ein bißchen traurig. Den ganzen Tag ist heute im Geschäft noch weniger los als sonst. Gerade daß ich mal die Hälfte des Futters und der Katzenstreu verkauft habe, die ich sonst verkaufe. Aber kurz vor Schluß ist eine Mutter mit ihrer Tochter gekommen. Die Mutter hat gesagt, daß sich die Tochter einen Hund zum Geburtstag aussuchen dürfe. Der Hund dürfe eine mittlere Größe haben. Die Tochter hat sich sehr schnell für Betty entschieden. Sie hat Betty im Arm gehalten. Ich wollte fast fragen, wo Mutter und Tochter wohnen, damit ich wenigstens theoretisch ab und zu vorbeischauen könnte. Als Mutter und Tochter gingen, hat Betty versucht, sich loszumachen und zu mir zu kommen. Betty hat gewinselt. Das hat mir einen ganz schönen Stich gegeben.“

Es entsteht eine Pause.

Ana sagt: „Jetzt kommt er gleich.“

Letzten Abend hatte Costin Ana angerufen und gesagt, daß er gerade in der Popstar-Casting-Show in Köln auch den dritten Recall bestanden habe, er werde jetzt gleich ins Flugzeug steigen und sich dann in zwei Tagen aus dem Trainingscamp der besten 20 Kandidaten in Orlando wieder melden.

Im Fernsehen ist nach dem Popstar-Vorspann mit der Erkennungsmelodie zur Erinnerung für die Zuschauer eine Zusammenfassung aller Kandidaten gezeigt worden, die jetzt in der aktuellen Folge vor dem zweiten Recall stehen. Costin hatte vor einer Woche hier, auf dem Sofa, zusammen mit ihnen gesessen und berichtet, wie er beim zweiten Recall einen Teil seines Textes vergessen hatte, die Minuspunkte aber bei seiner Solotanzperformace und anschließend bei seinem Auftritt in einer der Gruppen, in die die Kandidaten von der Jury spontan eingeteilt wurden, wieder wettmachen konnte.

Durch Costins Bericht weiß Wallner, daß die rothaarige Henriette, die jetzt in der Zusammenfassung, nachdem sie zu Hause in Bozen beim Singen gezeigt worden ist, sagt, sie werde im zweiten Recall alles geben, spätestens am Ende der Sendung in einer Stunde von der Jury erfahren wird, daß sie ihren Performancestil bereits zu sehr individualisiert habe und daher nur schwer in eine noch zu bildende Gruppe passe, sie es daher nicht in die nächste Runde geschafft habe, worauf Henriette zu weinen beginnen wird, von Costin in den Arm genommen und auf die Stirn geküßt werden wird, was, in der Sendung nicht gezeigt, zu einer momentan noch andauernden Beziehung zwischen Costin und Henriette führen wird. Bei der Zusammenfassung von Costins Weg zum zweiten Recall erscheint zunächst Costin, der in der ersten Runde der Jury in München vorsingt, dann Costin, der im Rahmen seiner Ausbildung zum Bankkaufmann hinter dem Schalter einer Filiale in Regensburg steht, dann Ana, die auf dem Wohnzimmersofa sitzt und sagt, daß es Costins größter Traum sei, Popstar in einer Band zu werden.

Wenige Minuten später tritt Costin in der Sendung vor die Jury. Er beginnt mit dem Song, den er eingeübt hat. Bei der zweiten Strophe vergißt er den Text und singt trotzdem weiter.

Er singt: „Lala.“

45

Im Sekretariat ist doch jemand. Eine schwarze Gestalt hat sich hinter der Milchglasscheibe bewegt, jetzt wieder, obwohl Frau Beck das Gebäude schon längst verlassen hat. Sie verabschiedete sich etwa vor einer halben Stunde von ihm. Er hat sie vom Fenster aus über den Parkplatz zu ihrem silbernen Ford stöckeln sehen. Er steht auf. Ihm ist etwas mulmig. Wer wäre noch im Gebäude? Nur Breitenbacher sitzt noch in seinem Häuschen an der Pforte. Als Wallner die Tür mit einem Ruck aufreißt, hat er deutlich Schritte gehört, als ob sich jemand schnell vom Sekretariat entfernt. Wallner stürzt in den Flur, wo bereits Licht brennt. Am Ende des Flurs meint er, eine Gestalt zu sehen; Wallner kann sie nicht genau erkennen, weil die Lampe an dieser Stelle ausgefallen ist, aber es ist, das sieht er, ein Mann, vielleicht 1,85 groß, leicht untersetzt, spitze Nase, Mitte 50. Wallner kann sich nicht bewegen. Der Mann hat einen Augenblick auf der Stelle verharrt und ist dann weiter, das Treppenhaus hinunter gelaufen. Wallner schließt die Augen. Ein Geräusch ist erklungen, die Tür am Firmeneingang, die ins Schloß fällt.