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Er drückt die Klingel, mit einem Summton ist die gepanzerte Tür aufgeschnappt. Er tritt ein und bleibt im Windfang stehen.
Durch die vergitterte Glastür ist der Schalter zu sehen, dahinter ein Schreibtisch mit Computer, an dem ein Polizist sitzt. Aber was soll Wallner dem eigentlich sagen? Anzeige gegen Unbekannt? Wegen Einbruchs? Es gibt ja keine Spuren, keine zerbrochenen Fenster, keine aufgebrochenen Schlösser. Auch kein wirkliches Motiv. Nachspionieren. Was Wallner so tut. Ob er seine Arbeit ordnungsgemäß erledigt. Was für Statistiken und Finanzierungspläne er erstellt, die er Wiget nicht zeigt. Wiget. Unweigerlich würde beim Gespräch mit dem Polizisten die Sprache auch auf Wiget kommen. Soll Wallner etwa seinen jahrzehntelangen Partner, mit dem ihn, wie ganz Cham weiß, ein freundschaftliches Verhältnis verbindet, als Verdächtigen einer Tat nennen, für die Wallner jeder Beweis fehlt? Der Polizist wird ihm nicht glauben. Ana wird ihm nicht glauben. Vorerst wird er ihr nichts von all dem erzählen. Sollte er weiter verfolgt werden, wird er Beweise sammeln. Von nun an wird er einen Fotoapparat bei sich führen, um, wenn es wieder zu einer Begegnung kommt, ein Bild von seinem Verfolger machen zu können.
Wallner zieht an der gepanzerten Tür, sie ist verschlossen. Er klopft an die vergitterte Glastür, der Polizist schaut auf. Wallner deutet auf die gepanzerte Tür. „Machen Sie bitte auf?“ fragt er laut. Er versteht nicht, was der Polizist, der zu lächeln begonnen hat, antwortet. Wallner rüttelt an der gepanzerten Tür. Endlich erklingt der Summton.
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Im Fernsehen ist nach dem Popstar-Vorspann mit der Erkennungsmelodie zur Erinnerung für die Zuschauer eine Zusammenfassung aller Kandidaten gezeigt worden, die jetzt, in der aktuellen Folge, vor der Endausscheidung stehen. Als vorletzter der zehn Kandidaten, die sich noch im Camp in Orlando befinden, wird Costin und sein Weg in die Endrunde beschrieben; es erscheinen Costin, der in der ersten Runde der Jury in München vorsingt, der als Azubi hinter dem Schalter einer Bankfiliale in Regensburg steht, Ana, die von Costins größtem Traum erzählt, schließlich noch einmal Costin, der Ausschnitt aus der letzten Folge, in dem er erfährt, daß er es in die Endrunde geschafft hat, seine Augen, die sich schließen, sein Kopf, den er in den Nacken legt, seine Arme, die er hochreißt, in Zeitlupe.
Nach der Zusammenfassung hat die Kommentatoren-Stimme aus dem Off gesagt, daß es zwar für alle Kandidaten ein großartiger Erfolg sei, es bis hierher geschafft zu haben. Daß aber für die, die am Ende ausscheiden werden, Orlando nur eine Episode in ihrem Leben gewesen sein werde. Für sie beginne in einer Woche wieder ihr Alltag; träfe es Joanne, würde sie wieder in einem Lokal kellnern, träfe es Costin, würde er wieder hinter einem Bankschalter stehen und seine Kunden über Bausparverträge informieren. Die vier aber, die am Ende der Sendung gewonnen haben, werden sich nur vage vorstellen können, was es heißt, auf unabsehbare Zeit zusammen zu sein, ein Konzert nach dem anderen zu geben, von Tausenden von Fans gehört und geliebt zu werden und und und.
Bevor Costin, der jetzt auf Vorschlag des Managements hin offiziell CO heißt, mit der Band, den PingPongs, nächste Woche die Songs für das erste Album, das in drei Wochen erscheinen wird, einsingen und danach für eine kurze inoffizielle Pre-Tour proben wird, ist er für eineinhalb Tage nach Cham gekommen. Weil Wallner nicht damit einverstanden ist, daß Costin seine Ausbildung bei der Bankfiliale abbricht und den Vertrag mit der Produktionsfirma der Popstar-Serie und dessen Leiter, einem Olaf Erdrich, unterzeichnet hat, ohne zuvor ihn, Wallner, gefragt oder auch nur informiert zu haben, haben sich Wallner und Costin beim Abendessen gestritten, das auf Wunsch Costins ohne jeden größeren Aufwand, das heißt so wie immer, als sei die Sache mit dem Popstar gar nicht geschehen, vonstatten gehen sollte.
Auf dem Sofa spürt Wallner jetzt, daß seine Wangen von dem Streit immer noch leicht brennen. Sie müssen gerötet sein.
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8. Mai
17:15 Uhr. Dr. Beierle. Brille.
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Die drei Kandidaten stehen hinter einer Theke. Die Kandidatin rechts drückt auf den Knopf vor ihr. Eine Signalhupe ertönt.
Die Stimme des Quizmasters sagt: „Birgit.“
Die anderen Kandidaten stehen im Halbdunkel.
Birgit sagt: „Burma.“
Wallner schaltet um.
Das Polizeiauto fährt mit Blaulicht über eine Kreuzung.
Die Reifen quietschen. Wachtmeister Willems fährt. Auf dem Beifahrersitz hält sich Polizeikommissarin Brigitte Weichinger am Armaturenbrett fest.
Brigitte Weichinger (vorgebeugt): „Könnt ihr noch mal die Straße und die Hausnummer wiederholen?“
Stimme aus dem Funkgerät: „Die Straße ist die Barerstraße. Die Hausnummer ist (Störgeräusch). .“
Brigitte Weichinger (vorgebeugt): „Hallo? Hallo? Hörts ihr mich? Was war die Hausnummer?“
Das Polizeiauto überholt eine Tram. Ein entgegenkommendes Auto weicht auf den Gehsteig aus. Ein Fußgänger springt zur Seite.
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Wallner geht in Costins Zimmer, weil der Computer in seinem Arbeitszimmer zum dritten Mal in Folge abgestürzt ist. Wallner ist seit dem Umzug in die Villa vielleicht nur drei-, viermal hier im Keller in Costins Zimmer gewesen; nachdem Costin nach Regensburg zur Ausbildung bei der Sparkasse gegangen ist, kein einziges Mal.
Wallner hat das Zimmer für einen Moment nicht wiedererkannt. Ana stellte hier, wohl nach Costins Auszug, mehrere Möbelstücke ein, den alten Schrank aus dem Eßzimmer, den alten Tisch aus ihrem eigenen Arbeitszimmer, einige Kartons aus dem Hobbyraum, ohne Wallners Wissen. Costins altes Bett steht noch da, mit hellblauem Anstrich und dünnen roten Streifen.
Dünne rote Streifen auf hellblauem Hintergrund sind die Farben von Christopher gewesen in dem gleichnamigen Buch, das Ana auf der Schreibmaschine für Costin geschrieben und illustriert hat, als er in die erste Klasse kam. Christopher, der Held des Buches, ist ein Junge, der bei seinen Eltern wohnt — die Mutter ist Rumänin — und gerade in die erste Klasse kommt. Christopher sieht aus wie Costin. Sobald Christopher einschläft, befindet er sich in einer Traumwelt. Statt eines Schlafanzugs trägt er ein einteiliges Kostüm mit Mantel in den Christopher-Farben. Sein Lieblingsstofftier, ein Maikäfer, erwacht in der Traumwelt zum Leben. Ana hat den Maikäfer Dinu genannt. Wallner erfuhr davon erst, als ihm Ana das fertig gebundene Buch einen Tag vor Costins erstem Schultag zeigte. Wallner war gegen den Namen Dinu gewesen, aber Ana hatte gesagt, es sei zu spät, noch irgend etwas zu ändern, die Arbeit, das alles zu tippen, die Zeichnungen mit Holzfarbstift, das mache sie nicht noch einmal.
Jedes Kapitel begann ähnlich. Christopher schlief ein und erwachte, däumlingsgroß, auf dem Rücken Dinus wieder, der gerade zu neuen Abenteuern flog. Oft geschah das auf Hilferufe hin, die atemlose Heuschrecken oder Mücken mit auf ihren Stacheln befestigten schriftlichen Ersuchen aus fernen Ländern überbrachten.
Wallner konnte sich noch dunkel an ein Kapitel erinnern, in dem ein Dorf in Indien von einer Dürreperiode heimgesucht wurde. Auf einer Illustration hatten Traktoren verlassen auf den ausgetrockneten Feldern gestanden. Dinu Mai hatte sämtliche einheimische Käferarten zu einer Generalversammlung einberufen, und unter Christophers Anleitung war mit Käferschaufeln und Käferbeinen ein Schacht, ein Brunnen gegraben worden.