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Ana las fast jeden Abend von Winter bis Sommer, das ganze erste Schuljahr hindurch, Costin ein Kapitel aus Christopher vor. Zu seinem Geburtstag im März hatte Costin einen Stoffmaikäfer sowie einen Mantel in den Christopher-Farben geschenkt bekommen, den er den ganzen Sommer über trug, wobei er darauf bestand, mit Christopher angeredet zu werden. Wallner hatte auf Costins Wunsch hin dessen Bett und Bücherschrank in den Christopher-Farben angemalt.

Vor Beginn der zweiten Klasse hatte dann Ana Costin, der inzwischen das Christopher-Buch stellenweise auswendig konnte, ein zweites Christopher-Buch geschenkt. Im zweiten Christopher-Buch hatte Christopher ein neues Stofftier bekommen, Marie Käfer, die Dinu Mai anfangs nicht ausstehen konnte. Dann war Dinu Mai krank geworden, er hatte eine Art Arthrose in den Fühlern bekommen, und Marie Käfer war zusammen mit Christopher in ein Land geflogen, das „Frühlingsland“ oder „Land des Frühlings“ hieß, jedenfalls hatte es einen kitschigen Namen gehabt. Nur dort hatte es so etwas wie das „Wasser des Lebens“ für Maikäfer, einen Sirup aus irgendwelchen magischen Früchten, gegeben.

So oder so ähnlich ging die Geschichte, das wußte Wallner noch. Als ihm Ana diesmal, noch bevor sie das Buch zum Binden gab, das Manuskript vorlegte, damit sie, sollte er etwas dagegen haben, noch Änderungen vornehmen konnte, hatte er wegen Marie Käfer Verdacht geschöpft, daß Ana vielleicht etwas über sein ehemaliges Verhältnis mit Lotte Müller herausgefunden haben könnte und darauf anspielen wollte. Als er aber auf die Illustration des kranken Dinu Mais mit geknickten Fühlern zeigte und fragte, ob das er, Wallner, sein solle, hatte Ana gesagt, daß er und sie ja bereits im Buch vorkämen, als Christophers Eltern nämlich, die immer nur in Aktion traten, wenn sie ihren Sohn ins Bett brachten oder ihn am Morgen aufweckten. Sie habe bei Dinu an niemand Bestimmten gedacht.

„Maikäfer werden halt auch mal krank“, hatte sie gesagt.

Ungefähr als Costin ins Gymnasium eintrat, nein, zuvor, Wallners Großmutter war bereits tot, hatte eines Tages Ana zusammen mit Costin neue Möbel für das Zimmer gekauft. Costin hatte es seitdem abgelehnt, Christopher genannt zu werden. Nur das Christopher-Bett war in Costins Zimmer stehengeblieben. Costin hatte bald angefangen, Comics zu sammeln. Wallner hatte zusammen mit Costin ein, zwei Folgen von Alf gesehen, so daß er erraten konnte, wenn Costin so tat, als wäre er, Costin, dieser Alf.

Wallner geht zwischen den Stapeln der bunten Hefte, die über den Boden verstreut liegen, zum Computer. Über dem Schreibtisch hängt das Poster einer Sängerin, blondes Haar, schief aufgesetztes weißes Cap, vermutlich aus Lack, unter dem T-Shirt sind ihre Brustwarzen erkennbar. Sie schaut Wallner ins Gesicht, er kann ihrem ernsten Blick nicht ausweichen. Wallner schaltet den Computer ein, geht online und klickt auf das Icon mit dem Briefumschlag, um zu seinem E-Mailkonto zu gelangen.

51

„Bitte verlaß mich nicht.“

„Aber warum soll ich dich denn verlassen?“

Es entsteht eine Pause.

„Ich habe so eine Angst. Ana. Ich habe so eine Scheiß-Angst.“

„Aber du mußt doch keine Angst haben.“

Es entsteht eine Pause.

„Du mußt keine Angst haben.“

52

Die Einkaufstüten in seinen Händen sind in den letzten Minuten immer schwerer geworden. Und dann das Gedränge überall und besonders auf der Rolltreppe, seine Nase berührt beinahe den Pelzmantel der Frau vor ihm, der stark süßlich riecht. Ana ist schon vorausgeeilt. Sie steht oben und studiert den Wegweiser der Etagen. Woher nimmt sie diese Energie? Wallner läßt den Blick schweifen. Die Musik — irgendein Walzer von Schostakowitsch, den er aus einem Film kennt — hat etwas Einschläferndes. Ein Mann, spitze Nase, Ende 50, leicht untersetzt, vielleicht 1,85 groß, mit rotweiß kariertem Hemd, hat ihn von gegenüber, der Rolltreppe, die nach unten fährt, angeschaut und sich sofort umgewendet, mit einem Schlag ist Wallner hellwach. Kein Zweifel, der Mann hat gemerkt, daß Wallner ihn erkannt hat. Wallner greift nach dem Fotoapparat in seiner Manteltasche, blickt dem Fremden nach, möchte „He“ rufen, bringt aber keinen Ton heraus, macht ein Foto und versucht dabei gegen die Fahrtrichtung der Rolltreppe und zwischen den Leuten hindurch, die ihm den Weg versperren, nach unten zu laufen, dem Fremden hinterher. Schon ist der Mann am Ende der Rolltreppe angekommen, eilt weg. An einem Stand für Armbanduhren ist er mit dem Rücken zu Wallner stehengeblieben, beugt sich über eine der Glasvitrinen. Er schreibt etwas auf einen Notizzettel. Wallner klopft das Herz bis zum Hals, er zögert, dann tippt er dem Mann auf den Rücken.

„Was soll das?“ fragt Wallner, außer Atem.

Der Mann hat sich umgedreht.

„Wie bitte?“ fragt der Mann.

„Warum folgen Sie mir immer? Auf der Rolltreppe eben. .“

„Entschuldigung. Aber. . Sie müssen mich verwechseln.“

Der Mann deutet auf das Namensschild an seinem Hemd, auf dem Herr Geiger steht.

„Aber eben auf der Rolltreppe. .“

Wallner stutzt. Hat er den Falschen erwischt? Möglich, daß der Mann von der Rolltreppe weitergelaufen ist. Vielleicht war Wallner für einen Moment unachtsam.

„Entschuldigung. .“, stammelt Wallner.

Langsam geht er zur Rolltreppe. Oben wartet Ana.

„Was war denn?“ fragt sie, als Wallner auf die Kante von einem der Ausstellungsbetten gesunken ist.

„Kennst du den Mann da unten, den Verkäufer in dem karierten Hemd? Kennst du den?“ fragt Wallner erschöpft. Ana reckt den Kopf.

„Aber das ist doch der, bei dem wir die Couch gekauft haben; der sich damals für uns so eingesetzt hat, daß wir das Modell in Grün bekommen. Weißt du das nicht mehr? Greier, Geiber oder so ähnlich. .“

„Geiger“, sagt Wallner.

„Geiger, ja.“

Es entsteht eine Pause.

„Soll ich dir ein Wasser bringen? Du bist ja ganz bleich, ich bring dir ein Wasser, warte mal“, hat Ana gesagt und ist gegangen.

Während Wallner sich vorsichtig zurückfallen läßt und sein Blick auf die Neonleuchtröhren an der Decke hoch über ihm fällt, ist er beinahe erleichtert. Er hat zwar den Mann auf der Rolltreppe nicht mehr erwischt, aber Wallner weiß jetzt mit Sicherheit, daß er tatsächlich unter Beobachtung steht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man sich das nächste Mal begegnet. Wallner braucht sich keine Gedanken darüber zu machen, daß er keine Beweise dafür hat, daß man ihn verfolgt. Die Beweise für eine Verfolgung werden ihm geliefert werden.

53

Witte sitzt im Eßzimmer und ißt Suppe, Wallner stellt sich vor, daß die Wittes dasselbe Set benutzen wie die Wigets, weil ihm das tatsächliche Set der Wittes gerade nicht präsent ist: Auf der weißen Keramikfläche sind konzentrische hellgrüne Kreise aufgemalt. Das Eßzimmer mit dem Bauernschrank und dem PVC-Boden ist das der Wellenhofers. An der Wand neben dem Durchgang zur Küche hängt ein Votivbild, das die in einen blauen Mantel gehüllte Mutter Gottes zeigt. Witte trägt das gelbbraun karierte Sakko, das er angehabt hat, als er heute vormittag mit Wallner gesprochen hat. Nein. Wallner stellt sich vor, daß Witte zu Hause eine Trachtenjacke trägt. Da kommt Wittes Frau, Ines oder Vera. Wallner kann sich jetzt nicht mehr daran erinnern, wie sie aussieht. So ist es die Schauspielerin aus dem Mehrteiler über das Leben einer Familie, die in einem Dorf im Voralpenland wohnt, Wallner hat die zweite und dritte Folge ungefähr vor einem halben Jahr gesehen.