61
Bereits von weitem kann er die kleine Gruppe von Gerademal- beziehungsweise Gerade-noch-nicht-Teenagern sehen, am Gatter hängen Luftballons, davor liegen Teddys. Eigentlich müßten die Kinder schon längst die Alarmanlage ausgelöst haben. Ana wird sie wie immer ausgeschaltet haben. Sie ertrage das ständige Piepen nicht, sagt sie.
Als er mehrmals hupt und sich das Gatter automatisch öffnet, sind die Mädchen — es sind nur Mädchen, vielleicht sechs, sieben — zu den Seiten ausgewichen und haben, jetzt aber anders als eben, wütend oder traurig, wie es scheint, nicht mehr dem Haus, sondern dem Auto zugewandt, obwohl sie sehen können, daß nur er und niemand sonst darin sitzt, ihre Sprechchöre mit „C-O, C-O, C-O“ fortgesetzt. Für einen Augenblick befürchtet er, daß eines der Kinder sich an seinem Auto vorbei aufs Grundstück zwängen und bis zur Haustür laufen könnte. Zudem stellt sich die Frage, was passiert, wenn die Mädchen die zwei Tage, an denen Costin hier auf Besuch ist, weiter ihre Show abziehen und dabei womöglich noch Verstärkung bekommen sollten. Eines von ihnen könnte nachts ins Haus einbrechen, die Alarmanlage würde natürlich ausgelöst werden, jetzt lohnen sich endlich die eigentlich viel zu hohen Ausgaben für das satellitenüberwachte System. Aber allein die Vorstellung, 48 Stunden unter Belagerung zu sein, ist Wallner in diesem Moment unerträglich. Man könnte im Büro schlafen.
Er geht, die Stimmen der Mädchen im Hintergrund wie Anfeuerungsschreie, von der Garage zum Haus. Die Mädchen starren ihn mit diesen Augen an, sie glotzen regelrecht.
Als er die Tür öffnet, kommt ihm gerade im Eilschritt Costin entgegen, er trägt einen dieser ockerfarbenen Nadelstreifenanzüge mit T-Shirt darunter, das Outfit, in dem die männlichen Models auf den Werbeeinlagen in der Zeitung abgebildet sind, Costin sieht tatsächlich genauso aus wie das männliche Model aus der Werbeeinlage, er ist braungebrannt.
Wallner sagt: „Hey.“ Er kann für einen Moment nicht sprechen, er bringt kein Wort heraus. „Hast du eigentlich auch normale Fans? Die stürmen mir ja bald mein Haus. Wann bist du denn angekommen?“
Costin, der im Begriff ist, die Treppe in den Keller herunterzulaufen, sagt: „Hallo, Tata. Ich hab’s gerade super-eilig, sorry, ich habe was mit Quirin und Britney ausgemacht. Muß noch duschen und das alles. Streß, Streß, Streß. Wollen wir mal reden?“
Costin ist im Keller verschwunden.
Er hat Wallner nicht zur Begrüßung umarmt oder auf die Wangen geküßt. Wallner möchte, daß ihn Costin zur Begrüßung umarmt und auf die Wangen küßt.
Vor der Küchentür, die einen Spalt weit geöffnet ist, bleibt Wallner wie angewurzelt stehen. Am Herd kocht jemand, eine fremde Frau, vielleicht 30, klein, dürr, schulterlanges blondes Haar.
Nein.
Es ist Dolora, die Köchin. Schön öfter ist es Wallner jetzt passiert, daß er sich vor Dolora oder der Putzfrau, Eva, erschrocken hat; er hat sich noch immer nicht ganz an die neue Situation gewöhnt. Anas Bedingungen für den Umzug in die Villa nach Chammünster waren gewesen, daß sie im Haushalt entlastet werden würde und sie sich voll auf die Boutique konzentrieren könne. Wallners Einwand, daß man ja mit dem Börsengang ein hohes Risiko auf sich genommen habe und vielleicht später einmal finanzielle Polster benötige, lehnte sie ab. Sie sehe es nicht ein, auf Sachen zu verzichten, die sie sich all die Jahrzehnte — Jahrzehnte! — in Cham gewünscht habe und die sie sich nun endlich leisten könne. Wallner hatte gedacht, er könne die Diskussion um die Putzfrau und die Köchin aufschieben, indem er einfach, immer wenn ihn Ana abends fragte, was denn nun sei, welche Bewerberin in die engere Wahl komme, erwiderte, er sei sehr müde, könne heute einfach nicht mehr, ob sie das nicht später einmal besprechen könnten, am Wochenende zum Beispiel — was sie dann natürlich nicht taten.
Eines Tages aber hatte, als er nach Hause kam, Ana mit einer dicklichen Blondine, ungefähr 30, im Wohnzimmer gesessen. Sie waren lachend ins Gespräch vertieft gewesen, schienen ihn zuerst überhaupt nicht wahrzunehmen, bis Ana ihm die Blondine als die neue Putzfrau vorstellte. Ana hatte ihr einfach so, ohne Wallner noch einmal zu konsultieren, den Job gegeben, ebenso wie Dolora. Beide waren ursprünglich aus Tschechien, hatten einen leichten Akzent, möglich, daß ihnen ihre Herkunft bei Ana einen Bonuspunkt eingetragen hatte, die in ihnen Verbündete sehen mochte, die Ostblock-Connection sozusagen. Die wenigen Male, die Wallner Eva und Dolora zu Gesicht bekommt, verwechselt er sie oder geht ihnen tunlichst aus dem Weg. So sind oft das einzige, was ihm anzeigt, daß die beiden tatsächlich für Ana und ihn werktags arbeiten, der Teppich, die Fenster und Möbel, die plötzlich anders riechen, künstlich, nach Melonen oder Zitronen — Eva mußte ein anderes Reinigungsmittel als Ana verwenden —, die Speisen, die zwar aussehen wie früher — Ana und er hatten einen Speiseplan erstellt —, aber nicht so schmecken; Dolora muß bestimmte Gewürze verwenden, die ihm bis dahin unbekannt gewesen sind. Zuerst hatte Wallner Evas und Doloras regelmäßige Anwesenheit in der Villa beunruhigt. Er hatte nicht schlafen können. Seit er die Schlüssel für die Schreibtischschubladen immer bei sich trägt und seinen Laptop in den Safe sperrt, geht es etwas besser. Man kann nie wissen.
Wallner macht schnell einen Schritt zurück und geht leise den Flur entlang, zur Treppe nach oben. Dolora hat ihn nicht gesehen.
62
Rhett Butler lehnt am Ende der Treppe und schaut nach oben. Den rechten Arm hat er auf den Pfosten gestützt, den linken in die Hüfte gestemmt. Seine pechschwarzen Haare sind stark pomadisiert. Er hat die Augen leicht zusammengekniffen und lächelt schlitzohrig.
63
„Ja Moment. Es geht doch hier vor allem um unser Profil. Es geht doch hier auch darum, wie, ja, und vor allem wo wir uns in den nächsten Jahren sehen. Sind wir das Unternehmen aus Cham, das national reüssiert, meinetwegen, oder sind wir das europäische Unternehmen mit Tochterfirmen dort und dort und dort. Ich höre da jetzt immer: Das ist doch ein Risiko, schau dir Rosenheim an, 20 Jahre schwarze Zahlen und innerhalb von zwei Jahren Insolvenz, laß uns warten, laß uns die sein, die wir sind und so weiterfahren wie bisher, laß uns noch fünf Jahre warten, bis es auch an der Börse besser läuft, und dann können wir überlegen, ob so etwas wie Marckelsheim überhaupt ein Thema ist. Und jetzt sage ich auch mal etwas. Wir werden an der Börse nicht punkten, wenn wir nicht expandieren. Wir werden nicht weiter die Aufträge bekommen, wenn wir uns nicht andere Märkte erschließen. Und, ja, darf ich mal etwas fragen: Wie kann es sein, daß meine Unterlagen sagen, die Maschinen in Marckelsheim seien erst vor fünf Jahren erneuert worden, das Gebäude sei saniert worden, und der Leiter sagt mir am Telefon, die Angestellten haben ein Durchschnittsalter von unter 40 und Straßburg werde in spätestens einem Jahr Probleme mit Zentrope bekommen? Und das erklärt ihr mir jetzt erst einmal.“
„Dazu kann ich nur sagen: Der Uli und ich sind ja dagewesen und haben uns das angeschaut. Und wir haben auch den Rost an den Kränen gesehen. Buchstäblich. Rost. Und den Putz, der von der Werkhalle gebröckelt ist. Da kann der Monsieur Aimard Ihnen noch soviel versichern, und in den Unterlagen kann stehen, daß das ja eigentlich eine schnieke Firma sei und nigelnagelneu und so weiter. Der Uli und ich sind aber da gewesen. Marckelsheim ist die Katze im Sack. Das sage ich jetzt. Wenn wir das machen, brauchen wir gar nicht die nächsten zwei Jahre abwarten, sondern können gleich die Insolvenz anmelden. Und ich stehe da mit meiner Meinung auch nicht allein da. Der Uli sieht das ganz genauso, und Herr Resch wird sicher so seine Probleme bekommen, seinen Aktionären zu verklickern, daß sie ihr Geld in eine Bruchbude investieren sollen, nur weil es Herr Wallner so wünscht. Uli?“