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04

Wallner hat seine Anzughose aus- und eine Jeans angezogen. Während er sein Hemd aufknöpft, hat er plötzlich eine Szene vor Augen. Da ist sein Vater. Er sitzt in einem Sechserabteil in einem ICE. Er hat das Aussehen, das er als etwa 65jähriger hatte, als Wallner ihn zum letzten Mal sah, und nicht das des 82jährigen, als der er starb. Durch die Bremsung des Zugs fällt das durchsichtige Brett des Gepäckfaches auf seinen Kopf. Er stürzt nach vorne, sein Hinterkopf ist eingedrückt. Aus einem Spalt in der Schädeldecke tritt Blut und färbt das grau-schwarze Haar dunkelrot.

05

2. April

König anrufen!

06

In Wallners Kopf befinden sich grüne, blaue und rote Flekken. Dr. Kaduk deutet mit einem Stab auf die Ergebnisse der PET-Aufnahme auf dem Bildschirm.

„So. Nicht erschrecken. Schön bunt, gell? Ich erkläre Ihnen das mal. Hier haben wir das Gehirn. Wir haben ja, wie gesagt, mal die Funktionen gemessen. So. Wir können jetzt auch näher herangehen, um ganz sicher zu sein, daß da nichts ist.“

Dr. Kaduk zoomt mit der Tastatur auf den blauen Fleck, der, wie Wallner jetzt sieht, außen heller ist als innen, azur. „Also“, sagt Dr. Kaduk, „ich habe mir das schon am Vormittag angesehen, und ich kann Sie beruhigen. Da ist nichts. Kein Tumor oder ähnliches. Bitte jetzt nicht enttäuscht sein.“

Dr. Kaduk lacht über seinen Witz und fletscht dabei die Zähne. Wallner lacht mit und hofft, daß es nicht allzu gezwungen wirkt.

„Was meinen Sie dann, woher das kommt? Haben Sie da eine Erklärung?“ sagt Wallner.

Er hätte nicht so abrupt zu lachen aufhören sollen.

„So. Ja. Was Sie mir da geschildert haben, ihre Symptome, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, das mit dem Herzen und so weiter, also für mich klingt das nach klassischer Überarbeitung, zuviel Streß, um es mit einem Wort zu sagen.“

Dr. Kaduk lacht wieder, zähnefletschend. Wallner hatte gedacht, dieses Gefühl, daß da etwas in seinem Kopf sei, etwas Fremdes, Kieselsteingroßes, würde verschwinden, sobald der Beweis erbracht wäre, daß es sich um etwas Ungefährliches handelte. Aber der Kieselstein ist noch immer da.

Möglicherweise hat Dr. Kaduk auch recht. Wallners Nervosität, seine Gereiztheit, das alles könnte streßbedingt sein, seine Angestellten blicken ihn ja zudem seit neuestem mit diesen Augen an, man könnte manchmal tatsächlich glauben, sie führen etwas im Schilde gegen Wallner. Auch Wiget benimmt sich seltsam in letzter Zeit. Erst am Donnerstag war Wallner in sein Büro gekommen, Wiget hatte an seinem Schreibtisch gestanden, einfach so, es schien ihm nicht einmal peinlich zu sein, die Schubladen waren offen. „Du durchsuchst meine Schubladen?“ hatte Wallner gesagt, es sollte wie ein Scherz klingen. Wiget hatte das in den falschen Hals gekriegt, hatte „Du spinnst doch“ oder „Hast du sie noch alle“ gesagt und war hinausgestürmt, Wallner war ihm sofort hinterhergelaufen und hatte sich bei ihm entschuldigt. Aber nicht nur seit diesem Vorfall hatte Wallner das Gefühl, daß Wiget nicht mehr so offen und herzlich wie früher zu ihm war.

„Was ist das hier eigentlich?“ Wallner zeigt mit dem Finger auf einen schwarzen Fleck in einem der roten Flecken auf dem Bildschirm. Wallner muß an ein Baustellenloch in einer Straße denken. Dr. Kaduk hat Wallner für den Bruchteil einer Sekunde durchdringend angeschaut, als wüßte er etwas, was er Wallner nicht sagen darf. Als sei Wallner ihm auf die Schliche gekommen.

Dr. Kaduk sagt: „Zoomen wir doch einmal hin.“

Je näher der schwarze Fleck auf dem Bildschirm rückt, desto mehr färbt er sich rot ein, geht im roten Fleck um ihn auf.

„Ja, Sie sehen. Da ist nichts“, sagt Dr. Kaduk.

07

Die Frauenstimme sagt, er solle die nächste Ausfahrt nehmen. Wallner wollte für einen Moment einen Gang zurückschalten, dann ist ihm wieder eingefallen, daß der Mietvan ja Automatik besitzt. In der Ferne sind drei Kuppeln zu sehen, die Deutzer Bürotürme, in ihren Fenstern spiegelt sich das Licht der Nachmittagssonne; ganz dünn, zwischen den Hochhäusern: die Spitze des Doms. Wallner biegt in die Ausfahrt Bergisch-Gladbach.

Er hat heute schon einmal, in der Früh, als er aus Cham losgefahren ist, überlegt, ob er tatsächlich noch nie in Bergisch-Gladbach war, vielleicht in seiner Kindheit, mit seinem Vater am Wochenende, zum Wandern, ein Sonntagsausflug, aber nein, er ist sich jetzt sicher, während vorne die Ortseinfahrt von Bergisch-Gladbach auftaucht, das heute ist das erste Mal. Es wird deutlich, warum Günter Wallner aus Köln-Rodenkirchen hierhergezogen ist. Die dichten Laubwälder, die Hügel mit den Weiden, die Täler dazwischen, in denen es bereits düster zu werden beginnt. Ja. Man kann hier schön wandern. Günter Wallner ist gerne gewandert. Dadurch, daß Stefan Wallner, wie in diesem Moment, den Kasper macht („den Kasper machen“ = bei Kurven das Quietschen von Reifen imitieren plus der Frauenstimme des Navigationssystems mit „Jawohl“ und „Wird gemacht“ antworten), löst sich die Anspannung, die gestiegen ist, je näher er der Wohnung seines Vaters kommt, der ehemaligen Wohnung.

Ein Piepton erklingt, Wallner hält den Van an. Er sucht den Knopf für das Navigationssystem, schaltet versehentlich das Radio an, erst als er den Knopf darüber drückt, erlischt der Bildschirm mit dem Stadtplanausschnitt des Wohngebiets, der Straße, in der er jetzt parkt.

Sein Vater hat die letzten 17 Jahre in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus mit Blick auf den knorrigen Apfelbaum im Garten davor gelebt.

Wallner drückt die oberste Klingel an der Haustür, die Klingel neben dem Namensschild Wallner. Es ist wahrscheinlich, daß hinter den Vorhängen in den Häusern gegenüber Hausfrauen, die gerade Mittagessen kochen, oder Rentner, deren Hauptbeschäftigung es ist, jedes Geschehen im Wohngebiet zu verfolgen, auch jetzt, Wallner beobachten, er kann ihre Blicke regelrecht auf seinem Körper spüren. Vielleicht auch Bekannte seines Vaters, Freunde, die sich bei ihm einmal wöchentlich zum Kartenspiel trafen.

Die Haustür öffnet sich, aufgestaute Wärme schlägt Wallner entgegen, Klebstoffgeruch. Ana steht in der Tür der ersten Wohnung im Erdgeschoß.

Sein Vater hat in einer Erdgeschoßwohnung gelebt.

Ana umarmt Wallner und fragt ihn, wie die Fahrt gewesen sei. Ana schwitzt. Sie führt ihn durch die Wohnung, sagt: „Also das war“ — sie sagt war, nicht ist — „das Wohnzimmer, hier das Schlafzimmer, das die Küche“, sagt: „Hier war das Bad“ und deutet auf die Kartons mit den Gegenständen, die sie schon eingepackt hat, das Radio, den AB. Auf dem Glastischchen vor dem schwarz bezogenen Sofa liegen ein Briefumschlag mit dem Sparbuch von Wallners Vater und Schmuckstücke aus dem Safe, die Ana gestern, als sie mit Wallners Vollmacht und seinem Erbschein bei der Hypo-Bank in Köln war, um das Konto seines Vaters aufzulösen, mitgebracht hat, wie sie sagt.

Wallner sagt: „OK. Das schaue ich mir dann nachher an.“

Für einen Moment hat er das Gefühl, sich in der früheren Wohnung seines Vaters zu befinden, die Anordnung der Möbel im Wohnzimmer — das schwarz bezogene Sofa an der Wand, das Glastischchen davor, daneben die Stehlampe, der Orientteppich — ist dieselbe wie in Köln-Rodenkirchen. Auf dem Glastischchen liegt die Fernbedienung für den Fernseher. Wallner kann seinen Vater sehen, der vom Sofa aus, den rechten Arm ausgestreckt, mit der Fernbedienung in der Hand den Fernseher ausschaltet, die Fernbedienung, sich vorbeugend, auf das Glastischchen legt. Klack.