Wichtig ist: Es gilt auszuharren. Ana hatte nach seinem Ausstieg vorgeschlagen umzuziehen, nach Regenburg oder München zum Beispiel, man könnte auch nach Bukarest gehen. Bukarest sei nach dem EU-Beitritt wirklich eine schöne Stadt geworden.
Ein Umzug wäre die Offenlegung der eigenen inneren Verfassung.
Manchmal stehen Autos in der Einfahrt der Wiget-Villa, der rote Golf der Wittes zum Beispiel, und sind im Vorbeifahren die Umrisse von Gestalten in den Fenstern des Wohnzimmers und der Küche zu sehen, bei denen es sich um van Riet, Resch sowie um Angestellte von Wallner & Wiget handeln könnte. Witte wird selbstgebackenes Brot zum Verzehr beim gemeinsamen Abendessen mitgebracht haben. Frau Beck wird Fotos ihres Sohnes Justin und seiner Familie vorzeigen. Man wird zusammen essen, trinken und lachen. In solchen Momenten sieht man klarer. Vormals nicht als solche wahrgenommene Intrigen und Täuschungsmanöver der Vergangenheit werden jetzt entlarvt.
Der Anfang der Freundschaft im Wohnheim: höchstwahrscheinlich echt, aber zweckbedingt, da Wiget sonst keine Freunde (gute) besaß.
Die Übernahme der insolventen Firma in Ulrich Wigets Heimatstadt dank des über Wallners Großeltern beschafften Kredits: von Anfang an vom Gedanken bestimmt, den eigentlichen Kopf (Wallner) des Projektes nur so lange zu gebrauchen, bis die Firma auf eigenen Beinen stehen und somit auch von weniger kompetenten Kräften (Wiget, van Riet, Resch) übernommen werden kann.
Die Pläne zur Fusionierung und zum Gang an die Börse: nur mitgetragen, um Verbündete gegen Wallner zu formieren.
Die Einbindung in die Familie Wiget inklusive gemeinsamer als harmonisch empfundene Abende und Ausflüge: der Gewinn von Wallners Vertrauen, um einen besseren Einblick in seine Gedankenwelt, Pläne, Wünsche plus Gefühle zu erhalten.
Zu diesem Komplex gehörend: das Arm-auf-die-Schulter-Legen, ein Ausstellen der Zuneigung, das es im Falle der Echtheit der Freundschaft nicht gebraucht hätte.
Resch: der Mitläufer.
Van Riet: der Adjutant.
Marckelsheim: der Enthauptungsschlag.
Es ist bekannt, daß Wiget und van Riet Stammkunden verloren haben. Verloren: Kaiser, Qualtinger, Erl, Konrad. Ana hat es gesagt. Sie muß es von Wiget oder Astrid wissen. Witte hat es gesagt. Später bei einem Telefonat, in dem es um den Plan ging, Jugendliche aus Nigeria für den Zeitraum der Hopfenernte nach Deutschland kommen zu lassen, hat Erl selbst gesagt, er sei zu Maier in Rosenheim gewechselt, weil er ja immer mit Wallner zu tun gehabt habe, mit van Riet nicht klargekommen sei — und, wie sich herausstellt, hat er sich ohnehin schon länger überlegt, die Firma zu wechseln, er sei mit der Lieferzeit unzufrieden gewesen. Es gibt Solidarität. Es gibt Treue.
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„Wo bist du?“
„Ich bin in Bukarest. Und du?“
„Du bist in Bukarest. Du hast doch gewußt, daß ich heute komme. Ich bin drei Wochen in Nigeria, ich komme am Flughafen an, niemand da, ich komme nach Hause, niemand da. Keine Nachricht. Gar nichts. Ich warte. Nichts. Du bist in Bukarest.“
„Du hast es nicht für nötig gehalten, mich die letzten zehn Tage anzurufen. Ich habe dir mehrere Nachrichten auf deine Mailbox gesprochen. Du hast dich nicht gemeldet. Warum soll ich mich also melden? Ich habe das hier gebraucht, ich brauche das hier.“
„Ich glaube das alles nicht. Daß du so was tust. Daß du in Bukarest bist. Jetzt. Wohin soll denn das alles führen? Was bezweckst du mit so was?“
„Ich komme übermorgen wieder. Eva und Dolora habe ich freigegeben. Bis dahin wirst du dich selbst versorgen müssen. Du wirst dich ja selbst versorgen können. Da kannst du mal sehen, wie das ist da. Allein. In dem Haus da.“
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In seinem Kopf befinden sich grüne, blaue und rote Flekken.
Er beugt sich mit der Leselupe über den Ausdruck der letzten PET-Aufnahme, den er von Dr. Kaduk angefordert hat. In dem roten Fleck ist ein schwarzes Loch, soviel steht fest. Wallner sieht es ganz deutlich. Allerdings. So klein ist es, daß es sich auch um eine Unregelmäßigkeit im Druck handeln könnte. Dr. Kaduk hat doch alles genau untersucht. In der Regel konnte man sich auf Dr. Kaduk verlassen. Vielleicht aber ist das Loch in Wallners Kopf, sofern es tatsächlich existierte, in der Zwischenzeit gewachsen und wäre nun auch für Dr. Kaduk sichtbar.
Das Loch ist in der Zwischenzeit gewachsen.
Er braucht Dr. Kaduk gar nicht aufzusuchen. Wallner weiß es ohnehin.
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Wie gut, daß Ana in Bukarest ist. Man kann nur gewinnen. Dies ist eine Win-win-Situation. Am Ende liegt die Schuld bei Ana, Bukarest ist eine Ungeheuerlichkeit, jetzt ist sie es, die ausgebrochen ist, nicht man selbst. In der nahen Zukunft wird die anklagende Haltung, die sie im Moment noch an den Tag legt, einer rechtfertigenden weichen, dann einer zerknirschten. Man wird beleidigt sein können. Man wird vergeben können. Und Ana wird davon absehen, einem erneut Vorwürfe zu machen; geschweige denn, daß sie überprüfen wird, ob man tatsächlich in Nigeria war beziehungsweise ist. Man wird ihr Andenken mitbringen, sie wird sich freuen müssen, weil die Situation nach ihrer Ungeheuerlichkeit und der eigenen Großmütigkeit dies mehr denn je erfordert. Ana hat sich selber eine Grube gegraben. Sie fällt.
Außerdem kann man, woran man in Paris schon öfters dachte, Anas Sachen im Schlafzimmerschrank durchsuchen. Selbst wenn Ana umgehend in Bukarest in den Flieger steigt und nach Nürnberg fliegt, braucht sie mindestens fünf Stunden, bis sie hier eintrifft. Man hat Zeit.
Wallner öffnet die Glastüren des obersten Regals, des Costin-Regals. Neben den Videokassetten mit den Mitschnitten sämtlicher Folgen der Popstar-Staffel mit Costin befinden sich darin zwei Fotoalben, eines für die PingPongs, eines für Costin beziehungsweise CO. Ana hat manchmal am Wochenende neben einem Packen Zeitschriften gesessen, Bravo, Popcorn, Mädchen, hat Fotos und Artikel ausgeschnitten und eingeklebt. Wallner hat gefragt, was sie mache, obwohl er es genau wußte. Ana hat dann manchmal „Ich mach’ so ein Album für Costin“, manchmal „Nichts“ gesagt. Seit ihrem Streit darüber, daß Costin einfach so, ohne seine Eltern vorher zu fragen, diesen Vertrag bei dieser Produktionsfirma unterschrieben hatte, haben sie eigentlich, wenn Wallner jetzt überlegt, nicht mehr wirklich kommuniziert; die ein, zwei Male, die Costin kurz dagewesen war, war er eigentlich die ganze Zeit über mit seinen Freunden unterwegs gewesen; auch Ana, mit der Costin zuerst noch regelmäßig telefoniert hatte, hat im letzten halben Jahr, seit dem zweiten Album der PingPongs, nur noch indirekt Kontakt mit Costin, über die Managerin der Band, eine Melanie Zoitke, mit der sie sich aber tatsächlich gut zu verstehen scheint. Ana hat öfters gesagt, mit Melanie Zoitke könne man gut reden und sie, Melanie Zoitke, kenne Costin inzwischen erstaunlich gut.
Obwohl Wallner demonstrativ aus dem Zimmer ging oder sich etwas anderem zuwandte, wenn Ana die neueste Popstar-Folge ansah, hatte er am Wochenende, wenn Ana einkaufen war, Anas Mitschnitte oft insgeheim im Schnellverfahren angeschaut, hatte den Vorlauf gestoppt, wenn Costin ins Bild kam. Hin und wieder, wenn er in letzter Zeit den Flieger nach Paris genommen hatte, hatte er auch in den Zeitschriftengeschäften am Flughafen in Nürnberg in Teenager-Zeitschriften geblättert, Bravo, Popcorn, Mädchen, um das Neueste über Costin beziehungsweise CO und die PingPongs zu erfahren. Wallner hatte gelesen, daß sich Costin von Henriette getrennt habe und mit der Sängerin einer anderen Band zusammen sei; daß sich das erste Album der PingPongs eine Woche lang auf Platz zwei der deutschen Albumcharts hielt. Costin hatte in einem Interview folgende Aussagen gemacht: „Mein Lieblingsgericht ist Sarmale, weil es mich daran erinnert, wo ich herkomm.“ Und: „Ich hab ein Herz für Pferde.“ In abgedruckten Fanbriefen hatte ein Mädchen, das 11, 12 oder 13 war, geschrieben, es sei in CO verliebt, es sei ihr größter Wunsch, ihn einmal zu treffen. Auf den Fotos, den Videos und den ausfaltbaren DIN-A 3-Postern in der Mitte der Zeitschriften, in die Wallner, am Stand in Geschäften stehend, hineinlugte, wurden aus Costins schwarzen Naturlocken kurze rote Stifteln, diese zu einer Glatze und diese zu schulterlangen, glatten blonden Haaren, trug Costin einen Ziegenbart, dann Monsterkoteletten, dann einen Dreitagebart, war glattrasiert und nahm im Lauf der Jahre deutlich zu.