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Wallner zieht die Videokassette aus dem Schrank, die Ana mit Konzert beschriftet hat, und legt sie ein. Es ist ein Konzert mit vielen früheren und späteren Popstar-Gruppen, ziemlich in der Mitte des Konzerts kündigt der Moderator die PingPongs mit einer Single aus ihrem neuen Album an. Obwohl die Musik der PingPongs nie die seine gewesen ist — wenn er Musik hört, dann vielleicht seine alten LPs aus den 70ern, Pink Floyd, Simon & Garfunkel, die Beatles, die Großen eben —, kann selbst Wallner hören, daß die neue Single keinerlei Zug besitzt. Zudem singen die PingPongs jetzt auf deutsch. Die Songs auf dem ersten Album waren auf englisch gewesen, was die Banalität der Texte zumindest zu einem gewissen Teil kaschierte.

Wäre Wallner Costin, er würde sich weigern, zusammen mit diesem Wylie, der sich immerzu in den Vordergrund drängt — er ist ja viel öfter zu sehen als Costin —, den Refrain „Dann möchte ich dein Boy sein“ (direkt daran angeschlossen die Zeile der Mädchen, der immer attraktiver werdenden Seema und der grauen Maus, dieser Uschi, „Und ich dein Girl“) zu singen. Wäre Wallner der Manager der PingPongs und nicht Melanie Zoitke, er würde die Lieder mit größter Sorgfalt und natürlich in Rücksprache mit der Band auswählen. Man würde sich treffen. Man würde diskutieren. Wäre Wallner der Choreograph der PingPongs, er würde sie nicht dieses Affentheater machen lassen. Costin kann hervorragend tanzen. Wallner weiß das. Wäre Wallner Costin, er würde Wallner um Verzeihung plus finanzielle Hilfe bitten, um diesem ganzen Popbusiness zu entkommen, wo einem vorgeschrieben wird, was man zu tun hat. Man ist unfrei. Man hat sich mit Unterschreiben des Vertrags der Produktionsfirma überantwortet.

Wallner legt den Kopf zur Seite, um die Titel der Videos in den anderen Regalen zu lesen. Die Videos sind chronologisch geordnet. Während Wallners Blick über die Videos mit den Aufnahmen aus der Anfangszeit hier in Cham schweift, sieht er Sequenzen aus Filmen vor sich, an die er sich erinnert. Wie sich Wiget und Astrid nach ihrer Trauung vor dem Eingang der Kirche zum Gruppenbild mit Verwandten aufstellen, für die Fotografen stillstehen. Wie Ana mit der Kamera durch das erste Haus in Cham geht, die viel zu dunklen Bilder wegen der schlechten Beleuchtung. Costin als Baby in der Wiege. Costin als kleiner Junge auf einer Schaukel, auf die Kamera zu schaukelnd und zurück, er, Wallner, dahinter, anschubsend, mit Schnauzer, hat er damals den Schnauzer gehabt oder erst später beziehungsweise schon früher? All diese Aufnahmen sind ohne Ton, man kann nur raten und aus der Erinnerung zu rekonstruieren versuchen, was die Leute sagen, wenn sie den Mund bewegen.

Wallner legt das Video mit der Aufschrift Abitur Costin ein. Costin steigt auf die Bühne. Durch den Zoom ist sein lachendes kalkweißes Gesicht zu sehen.

Wallner weiß, was folgt.

Costin holt sich sein Abiturzeugnis beim Rektor ab, wendet sich zum Publikum, tippt sich an die Stirn, lacht, tritt von der Bühne; dann er selbst, Wallner, wie er sich den Weg durch die Menge nach vorne bahnt, wie er Costin von hinten umarmt, überschwenglich, glücklich, sie beide, wie sie in die auf sie zuzoomende Kamera winken, aufstehen und Arm in Arm nach hinten, ausgelassen redend, zu Ana, zum Buffet gehen.

77

Stefan Wallner sagt, dies sei jetzt das dritte Jahr, in dem die Firma schwarze Zahlen schreibe. Die Firma habe jetzt eine Bonität.

Günter Wallner sagt, daß ihn dies freue.

Stefan Wallner sagt, er sei froh, daß er in der Lage war, letztes Jahr, noch bevor die Großmutter gestorben ist, ihr den Rest des geliehenen Geldes zurückzuzahlen.

Günter Wallner sagt, auch er sei froh. Er freue sich für Stefan Wallner. Er müsse es ganz offen gestehen. Am Anfang, wie Stefan Wallner vor zehn Jahren angefangen habe, da habe er Zweifel gehabt.

Stefan Wallner fragt, was Günter Wallner gedacht habe. Günter Wallner könne offen sein.

Günter Wallner sagt, wenn er ganz offen sei, habe er gedacht, der Kredit der Großeltern sei für immer fort. Die Firma halte sich vielleicht zwei Jahre. Maximal drei. Er habe ja noch gedacht, er könne Stefan Wallner von seinem Unglück abhalten.

Stefan Wallner fragt, wie Günter Wallner das meine.

Günter Wallner sagt, er habe doch Stefan Wallner das immer wieder auszureden versucht. Jetzt im nachhinein sei man natürlich schlauer. Er, Günter Wallner, sei stolz auf Stefan Wallner, er sei sehr stolz. Das sei natürlich eine Glückssache gewesen, daß die andere Firma in der Gegend gleich am Anfang zugemacht habe.

Stefan Wallner sagt, er staune, daß Günter Wallner sich das gemerkt habe.

Günter Wallner sagt, es tue ihm leid, er müsse das einmal sagen, daß er Stefan Wallner damals nicht unterstützt habe.

Stefan Wallner sagt, es müsse Günter Wallner nicht leid tun, er habe doch das Geld und den Kreditspielraum damals nicht gehabt. Er, Stefan Wallner, wisse das doch.

Es entsteht eine Pause.

Stefan Wallner fragt, ob das stimme.

Günter Wallner sagt nichts.

Stefan Wallner sagt, Günter Wallner habe das Geld und den Kreditspielraum gehabt, habe aber trotzdem Stefan Wallners Großeltern mütterlicherseits zahlen lassen, die damit die eigene Existenz aufs Spiel setzten, es seien ja eben nur Nowottnys und nicht Wallners, und da sei es ja egal.

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2. August

Das Kinderdorf soll mich in Frieden lassen. Ich wünsche keine Anrufe mehr von wegen „Wir benötigen Ihre Vermittlung“ oder „Ist es in Ordnung, wenn wir das Geld für das und das verwenden?“ Ich vermittle nicht. Und: Ja, es ist in Ordnung.

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Da ist Ndou. Er trägt ein langes hellgrünes Hemd und weiße Kniehosen aus Leinen. Er streckt den rechten Arm aus, die Goldreife daran klimpern. Er fragt, lächelnd, „Monsieur?“ und zeigt seine strahlend weißen Zähne.

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Van Riet sitzt neben Wiget auf dem Sofa im Wohnzimmer der Wigets, ihm gegenüber sitzt Astrid auf einem Stuhl. Sie hat sich vorgebeugt und hört van Riet und Wiget konzentriert zu, die, sobald das Gespräch auf die Firma gekommen ist, begonnen haben, leiser zu sprechen. Astrid trägt den weißen oder rosafarbenen Bademantel, den sie anhatte, als Wallner und Wiget zusammen den Film über den Bundeswehreinsatz in Nigeria angeschaut hatten, dessen Titel Wallner jetzt vergessen hat. Wallner stellt sich vor, daß Patrick in seinem Zimmer im ersten Stock sitzt und fürs Abitur lernt. Er hat die blaue Matrosenmütze aufgesetzt, die ihm van Riet aus Hamburg mitgebracht hat.