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Das Gesicht des Türstehers ist für einen Moment im Guckkasten der metallenen Tür erschienen, kurz nachdem Wallner den Klingelknopf gedrückt hatte, ohne daß jedoch ein Klingeln zu hören gewesen wäre. Die Wände des Korridors sind mit Spiegeln belegt. Wo sie an die Decke und den glatten Fußboden anschließen, sind kleine Christbaumlämpchen befestigt, rot, weiß, blau. Wallner steigt die Treppe am Ende des Korridors herunter. Es hat ihm niemand gesagt, aber er vermutet, daß dies der Weg ist, möglich, daß die Spiegel zugleich Türen sind. Das Dröhnen des Basses wird mit jeder Windung der Treppe lauter.

Der Raum, in den Wallner tritt, liegt im Halbdunkel. Nur das Glitzern der Discokugel an der Decke wandert langsam über die Tische in den Nischen, die leere Tanzfläche, die Stange in der Mitte, die von einem Spotlight erhellt wird. Im Schwarzlicht, das von irgendwoher kommen muß, von der Lampe über der Bar, aus der Bar heraus, sind die Fusseln auf der Kleidung, die Zähne der Gestalten, die an der Bar sitzen, zu erkennen. Wallner tritt näher heran, bestimmt. Die Frauen drehen zuerst die Köpfe nach ihm um, dann stehen sie auf.

Eine ist mittelgroß, schlank, brünett, eine asiatisch, athletisch, eine schwarz, kräftiger, eine klein, schwarzhaarig, kräftiger, eine klein, blond.

Wallner geht langsam an ihnen entlang, bleibt stehen, geht weiter, geht zurück. Er deutet auf die kleine schwarzhaarige Frau.

Sie legt den Arm um seine Hüfte, zusammen gehen sie langsam quer durch den Raum, auf einen Treppenaufgang zu, bei dem es sich aber nicht um jenen handeln kann, über den Wallner hier hereingekommen ist. Die kleine schwarzhaarige Frau flüstert Wallner etwas ins Ohr, etwas auf französisch. Auf der Treppe ist sie vorausgegangen, Wallner ist zurückgefallen.

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Bei Chez Robert kann man wunderbar draußen sitzen, Kaffee trinken, Zeitung lesen oder einfach nur das Treiben auf dem Platz beobachten. Philippe, der Kellner, kennt einen schon. An guten Tagen, wenn man keine Schmerzen hat, das Wetter schön ist und man noch die ganze Woche vor sich hat, genießt man es hier richtig. Die Passanten, die spielenden Kinder, die Tauben. Man ist glücklich. Man hat keine Last. An schlechten Tagen, wenn man Schmerzen hat, das Wetter nicht so gut ist, man nur noch wenige Tage bis zur Abreise nach Cham hat plus Ana wieder am Telefon Vorwürfe erhoben hat, hat der Platz etwas Bedrückendes. Man sieht müde von der Zeitung auf. Die Passanten und die spielenden Kinder lärmen. Und diese Gedanken regen sich in einem: Was wäre, wenn einem jemand hier auf die Schliche käme, wenn es jemandem einfiele, einen zu erpressen.

Im Juni war beispielsweise plötzlich ein mittelgroßer Herr aufgetaucht, circa 50, kurzes blondes Haar, gut gekleidet. Kurz nachdem man sich selbst vors Chez Robert gesetzt hatte, hatte auch er an einem Nebentisch Platz genommen, Zeitung gelesen und ab und zu hinübergesehen, manchmal nickend, wie es einem vorkam. Als Ana am Telefon eine Andeutung machte, aus der zu schließen war, daß sie einem nicht glaube, ja, daß sie möglicherweise genau wisse, wo man sich in Wirklichkeit befinde, konnte man davon ausgehen, daß sie ihre Informationen von ebendiesem Herrn hatte, bei dem es sich demnach um eine Art auf einen selbst angesetzten Privatdetektiv, vielleicht auch um einen Bekannten oder Freund oder Liebhaber Anas handelte, der ihr einen Gefallen tun beziehungsweise sich einschmeicheln wollte, und wie war da die Überführung des Ehemannes noch zu übertreffen?

Als Ana sich später in Cham für ihre Ausfälligkeiten am Telefon entschuldigte und sagte, sie wolle nicht, daß diese Ehe in die Brüche gehe, sie wolle das nicht, vielleicht sei es ja nicht mehr so wie früher, aber man könne doch die Jahre, die einem bleiben, noch mit Würde und Respekt dem anderen gegenüber verbringen, und als man sie in die Arme genommen und man die Tränen in ihren Augen gesehen und selbst zu weinen begonnen hatte, man wußte nicht mehr, was tun, was denken, und als sich dann beim nächsten Parisaufenthalt der Herr nicht mehr blicken ließ, erwies sich der vormalige Verdacht als gegenstandslos und damit auch die bereits im Kopf ausgearbeiteten Pläne, den Herrn entweder auflaufen zu lassen, indem man so tat, als wüßte man nicht, daß man beobachtet werde, nur um falsche Fährten zu legen, oder aber, die Flucht zu ergreifen, Paris zu verlassen und sich in einer anderen Stadt eine zweite Existenz aufzubauen (vielleicht Prag; man kennt Prag von Geschäftsreisen), als überflüssig.

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14. Juni

Im Apartment rechts wohnt Monsieur Damiens, circa 1,80, graues Haar, Bürstenschnitt, drahtig. Um 8:15 Uhr geht er zum Bäcker, Baguette holen. Um 9 Uhr verläßt er das Haus mit einem schwarzen Aktenkoffer, um zur Arbeit zu gehen. Um 17 Uhr kommt er zurück. Von 19 bis 23 Uhr sieht er fern, oft auch Spielfilme auf englisch, wie ich durch die Schlafzimmerwand hören kann. Selten Besuch. Samstags um 19 Uhr verläßt er mit einer Sporttasche das Haus und kommt erst nach 0 Uhr zurück. Zu unregelmäßigen Zeiten, zumeist abends, hört man rhythmisches Quietschen. Es ist davon auszugehen, daß Monsieur Damiens eine Rudermaschine, ein Rad oder ähnliches in seinem Zimmer aufgestellt hat.

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Wallner sitzt am Schreibtisch über sein Notizbuch gebeugt. Die Beine hat er übereinandergeschlagen. Seine Ellbogen ruhen auf der Tischfläche. Er schreibt sehr schnell mit dem Bleistift, der auf dem Papier ein kratzendes Geräusch erzeugt.

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Christian Aimard, Anfang 60, circa 1,85 groß, leicht untersetzt, spitze Nase, sich lichtendes brünettes Haar, kennt alle Wege Wallners, weiß, wo er essen, wo er einkaufen, wo er ins Sonnenstudio geht. Er kennt alle bisherigen Putzfrauen Wallners in Paris, tatsächlich hat er sie auf die Anzeigen aufmerksam gemacht, die Putzfrauen sind alle Bekannte Aimards. Aimard ist in Wallners Apartment gewesen. Er hat Wallners Computer und Fernseher angeschaltet, die Kriminalromane gelesen, die Toilette benutzt und sich ein Rumpsteak mit Petersilkartoffeln zubereitet. Wüßte Wallner etwas von Aimard, hätte er bereits seine Route durch das Viertel geändert und sich vielleicht, trotz der Pläne, die Nachbarwohnung zu kaufen, ein anderes Apartment gesucht. Wallner weiß nichts von Aimard.

Tagsüber ist Aimard in einem Fotolabor eines Supermarchés angestellt. Aimard entwickelt Fotos innerhalb einer Stunde, die Abzüge von digitalen Bildern kann man sofort mitnehmen. Wallner folgt er am Wochenende oder in der Mittagspause, oder er nimmt sich extra frei. Außer es regnet. Aimard haßt Regen, nicht nur spannt er bei Regen einen XXL-Regenschirm mit dem Aufdruck der Sehenswürdigkeiten von Paris auf, sondern er trägt auch neongelbe Regenkleidung mit Extraverschluß an Armen und Beinen, so daß kein Wasser auf seine Haut gelangt. Aimard ist alleinstehend. Er hatte einmal eine Beziehung zu einer jungen Frau, Claire, in Nantes, als er 28 war und noch im Fotolabor seines Vaters arbeitete. Aber Claire heiratete einen anderen.

Abends steht Aimard auf einer Leiter an der nördlichen Wand seines Schlafzimmers. Die Wand ist fast vollständig mit Fotos von Wallner bedeckt. Während Wallners Aufenthalten in Paris steht Aimard hier an der Wand und klebt die Fotos auf, die er am Tag von Wallner gemacht hat. Bald wird Aimard beginnen, auch an der westlichen und östlichen Wand Fotos aufzukleben.

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Aimard hat eine Freundin, Anne-Catherine Moureau. Sie ist schlank, ja mager, trägt eine Nickelbrille und hat das blonde Haar mit den grauen Strähnen stets zu einem Zopf geflochten. Nie trägt sie Hosen, immer Röcke mit T-Shirts oder Blusen, weiß. Aimard kannte Moureau vom Sehen, sie kaufte ab und zu im Supermarché ein. Vor zwei Monaten war sie dann zum ersten Mal zu Aimards Theke gekommen, hatte ihm eine Filmrolle übergeben und ihm ihren Namen gesagt, Moureau, wobei sie auf einen Punkt neben Aimards rechtem Ohr schaute. Auf dem 36er-Film waren nur sechs Fotos gewesen: drei von einer weißen Katze mit schwarzen Flecken am Kopf, drei von einer sehr aufgeräumten Wohnung mit Möbeln, die nach IKEA aussahen. Moureau war am Ende der Woche noch mals mit einer Filmrolle zum Fotolabor gekommen, die Woche darauf jeden zweiten, die übernächste Woche fast jeden Tag. Hatten die Fotos zunächst immer ähnliche Ansichten von derselben Katze und derselben Wohnung gezeigt, war auf den Bildern bald gar nichts mehr zu sehen gewesen, das heißt, Moureau hatte Aimard unbelichtete Filmrollen zum Entwickeln gegeben. Wenn Aimard Moureau die Taschen mit den schwarzen Fotos, die sich an den Rändern grau aufhellten, über die Theke reichte, ließen weder er noch sie sich etwas anmerken. Dann war Moureau ein paar Tage lang nicht zum Fotolabor gekommen, und Aimard, der inzwischen wußte, zu welchen Zeiten Moureau einkaufte, welche Produkte sie bevorzugte, welche Gesten sie beim Artikel-in-den-Einkaufskorb- und Artikel-aufs-Band-Legen machte, hatte untertags umsonst seine Theke verlassen, um nachzusehen, ob Moureau nicht vielleicht gerade in einem der Gänge im Supermarché vor den Kompottdosen oder in der Fleischabteilung stand. Nach vier Tagen hatte sich aber Moureau Punkt 12 Uhr an der Theke des Fotolabors eingefunden und sich Bilderrahmen angesehen, die zu einem Sonderpreis angeboten wurden. Aimard, der eigentlich zum ersten Mal nach drei Wochen wieder Wallner durch die Stadt hatte folgen wollen, war unschlüssig gewesen, was er tun sollte. Schließlich hatte er sich, während ihn sein Lehrling vertrat, an einen der Tische in der Bäckereiabteilung neben dem Fotolabor gestellt und sich ein Croissant sowie Kaffee gekauft. Auch Moureau hatte sich bei der Bäckereiabteilung einen Croissant sowie Kaffee gekauft, und weil auf dem anderen Tisch Brösel und eine Lache waren, hatte sie Aimard gefragt, ob sie sich an seinen Tisch stellen dürfe.