Hat Costin zu PingPongs-Zeiten sein Gras zuerst über Wylie oder Seema bekommen, so ist Costins Bezugsperson jetzt Dirk, ein Kneipenwirt in Schöneberg, der nur, so er, Dirk, für Freunde etwas besorgt, also auch für Costin, da Dirk Costin als Jessicas Freund kennengelernt hatte, Jessicas Freunde auch Dirks Freunde sind und Costin damit selbst nach der Trennung von Jessica weiterhin zu Dirks Kreis gehörte, einmal dabei, immer dabei, so Dirk.
Die Umrisse der Gegenstände im Hotelzimmer treten jetzt, wie mit schwarzem Filzstift nachgezogen, stärker hervor, färben sich ein, koloriert. Der Sessel ist bereits hellgrün, der Teppich rötet sich gerade. Gleich wird er kommen. Costin spürt, daß sich seine Haare zu Calvin-Zacken aufstellen. Da senkt sich was von der Decke. .
Hobbes: „Hast du mal Zeit?“
Calvin: „Muß bis morgen einen Aufsatz über das Thema ‚Was kann ich tun, damit die Welt schöner wird‘ schreiben. Hab keine Zeit zum Spielen.“
Hobbes: „Ich spiele ja gar nicht. Ich leiste einen wichtigen Beitrag für die Wissenschaft, indem ich unerschrocken ausprobiere, welche Veränderungen der Wahrnehmung sich durch das Kopfüber-vonder-Decke-Herunterhängen ergeben.“
Calvin hängt kopfüber neben Hobbes.
Calvin: „Glaubst du, ich kann die Forschungsergebnisse morgen statt meiner Hausaufgaben präsentieren?“
04
„CO?“
Costin hat sich zu dem Mädchen, das ihn an der Theke angesprochen hat, umgedreht — schwarze Locken, dunkler Teint, Zinken, etwas größer als er selbst, fünf von zehn zu erreichenden Punkten —, festgestellt, daß er es nicht kennt, „Hi“ gesagt und dann wieder weggeschaut. Die Bedienung, die, entsprechend dem Namen der Filiale der Fast-Food-Kette, The Fifties, einen kurzärmeligen rosa Angora-Pulli sowie eine Marilyn-Monroe-Perücke trägt, oder sind das wirklich ihre Haare? — wobei Costin seit Einführung der Kette in Deutschland vor ein paar Jahren da ja echt Zweifel hat, ob überhaupt jemand in den USA oder damals in der BRD so rumgelaufen ist —, hat mit stark sächsischem Akzent „Für hier oder zum Midnähm?“ gefragt.
Er hat schon immer so eine Schwäche für Themen-Restaurants gehabt, bei Cham gab es ja auch, in dem Entertainment Areal Richtung Furth, so einen Laden, Junge Römer, wo die Bedienungen, inklusive Gabriele, sein damaliger Schwarm aus der K 12, wegen der er dort von Anfang an regelmäßig aufkreuzte — Achtung: originell —, in Togen rumliefen und die Gäste beim Essen auf so Kanapees lagen.
„CO? Hallo-ho!?“ hat das Mädchen neben Costin gesagt.
Costin: „Kennen wir uns? Kenn ich dich?“
Mädchen: „Hey bitte. Stuttgart. After-Show-Party. Pool. Holiday Inn. Die Basak von deiner Schule und ich mit euch im Jacuzzi und. .“
Costin (hastig): „Ach. Oh. Du bist das. Was machst denn du hier?“ (Betonung auf du)
Erst mal soll die hier nicht so ein Theater machen, so daß ihn alle erkennen, und außerdem soll die diesen Krams in der Öffentlichkeit nicht auspacken. Schon möglich, daß er sie kennt, auch wenn er sich nicht an Stuttgart, geschweige denn einen Pool im Holiday Inn und schon gar nicht an ein Jacuzzi erinnern kann — und noch was: Wer ist Basak?
Die Bedienung hat Costin einen in einer Retro-50s-Plastik-Lunchbox (grün, mit Träger) verpackten 50s-Chicken-Burger gereicht und ihm einen „Gudn Abbedied“ gewünscht.
Als sich Costin später, in der Missionars-Stellung, umdreht und die angewinkelten Beine des Mädchens, das gesagt hat, es heiße Umut, gesehen hat, erinnerte ihn genau dieser View an ein Panel aus einem Barbarella-Comic, vor dessen aufgeschlagenen Seiten er zum ersten Mal onanierte. Umut hat zweimal laut „CO“ gerufen, Costin hat noch mal einen Gang zugelegt und dann, während er spürt, daß er kommt, und für den Bruchteil einer Schrecksekunde dachte, er habe kein Kondom angelegt, wo ihn doch noch vorhin beim Anlegen des Teils wieder mal der Scheißgummigeruch aufgeregt hatte, „Oh, Umut“ gesagt, einmal.
05
Doch. Man kann die zehn Euro mehr pro Nacht, die er hier im Vergleich zur Pension Paula zahlt, wo er vorher gewohnt hatte, schon an der Einrichtung des Zimmers sehen. Kein billiges Blumenbild über dem Bett, sondern ein Chagall-Druck. Auch die Möbel, Bett, Nachttisch, Schreibtisch, aus so massivem, dunkelbraunem Holz. Und das Bad: wie gerade frisch installiert und nicht so ein Ekel-DDR-Look wie in der Paula.
Costin hechelt mehrmals, damit der heiße Käse auf dem Stück der Pizza Hawaii, von der er abgebissen hat, abkühlt. Als plötzlich das Streicher-Tremolo eingesetzt hat, hat er wieder zum Fernseher gegenüber vom Bettende geschaut.
Close-up Pedro.
Pedro: „Morgen kommt Sandro aus dem Knast raus.“
Close-up Elvira.
Elvira: „Nein.“ (Pause) „Nein! Nein!“
Pedro (Elvira in den Arm nehmend): „Laß uns abhauen, Schatz! Laß uns einfach weggehen von hier.“
Diese Streicherlinie hat verdammt nach diesem Sommerhit von vor Ewigkeiten geklungen, der mit der Welle von den Helden, nein, Julimond. Costin hat etwas Heißes auf seinem rechten Fuß gefühlt und ist mit einem Ruck vom Schneidersitz in die Hocke gegangen. Das Stück Schinken, das von der Pizza in seiner Hand heruntergefallen ist, liegt auf seinem rechten großen Zeh. Er steckt es in den Mund. An der Stelle, wo es auf dem Laken gelegen hat, ist ein kleiner kackfarbener Fleck.
06
Melanie sagt: „Ihr steht um 4:30 Uhr auf. Ihr habt 30 Minuten um aufzustehen, zu frühstücken und so weiter und so fort. Um 5:00 Uhr kommt das Taxi. Der Flug ist um 6:10 Uhr. Ich habe eure Tickets. Ich muß euch nicht sagen, daß jeder für sein Gepäck selbst verantwortlich ist. Von 9:30 Uhr bis 10:00 Uhr habt ihr ein Interview mit Q. Um 10:30 Uhr habt ihr einen Live-Gig bei M 93, 3. Um 12:00 Uhr habt ihr einen Live-Gig im Saturn. Um 13:00 Uhr eßt ihr bei McDonalds. Die Popcorn wird da sein. Ihr werdet fotografiert. Um 15:00 Uhr habt ihr eine Autogrammstunde auf der Messe bis 16:00 Uhr. Um 16:30 Uhr dreht ihr den Spot für Nike. Um 19:30 Uhr habt ihr frei. Ihr duscht, eßt, macht euch die Maske sel-ber und so weiter und so fort. Euer Auftritt in der Show ist um 21:15 Uhr. Di-rekt im Anschluß unterhaltet ihr euch noch mit Karl. Er wird euch zu eurem neuen Album fragen, zur Vorbereitung für die Tour, vielleicht wird er auch die Gerüchte über Seema ansprechen. Ihr kennt ja Karl. Es muß aber keiner Angst haben. Ich muß euch ja wohl nicht sagen, was ihr ihm sagt.“
07
Er merkt, daß sein Herz jetzt bereits nicht mehr so rast wie noch gerade eben, und fragt sich für einen Moment, wie schon früher auch einmal, warum eigentlich aus manchen Handys so ein künstlicher Polaroid-Kamera-Klick-Sound kommt, wenn man ein Foto macht. Er schaut auf das Display des Handys, mit dem er vorhin, als er spürte, daß er gleich eine Attacke bekommen würde, schnell ein Foto von sich gemacht hat — die mittlerweile klassische Foto-Panik-Präventiv-Aktion, die Klein-Costin nach jahrelanger Übung aus dem Effeff beherrscht: Hand mit Handy hoch, übers Gesicht halten, in Linse gucken, klick, und fertig. Wobei er nicht sagen könnte, ob sie, die Attacke, gekommen war, weil er darauf geachtet hatte, auf die Attacke, oder umgekehrt: erst Attacke, dann darauf geachtet. Auf dem Bild des Displays hat er einen starren Blick, sein Mund ist ein ganz klein wenig geöffnet. Er ist bleich und könnte mal wieder eine Rasur gebrauchen. Seine schwarzen Locken sehen fettig aus und kräuseln sich auf dem beigen Kissen, auf dem er jetzt liegt.