Выбрать главу

Wallner sagt: „OK. Wir machen das jetzt folgendermaßen. Ich nehme mir das Schlafzimmer vor, und du machst in Küche und Bad weiter.“

Alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs, für die sie in Cham keine Verwendung haben, kommen in blaue Müllsäcke. Im Zweifelsfall entscheidet Wallner. Gegenstände aus dem Familienbesitz, die nicht so viel wiegen, als daß sie von den Spediteuren getragen werden müßten plus bei denen sich Wallner und Ana einig sind, daß sie Verwendung in Cham finden werden, kommen in einen Umzugskarton. Die Zahnbürste von Wallners Vater ist ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs. Sie kommt in einen Müllsack. Ana fragt, ob das Glastischchen weg oder mitgenommen werden solle, sie brauche es jedenfalls nicht. Wallner sagt, das Glastischchen sei Familienbesitz, es stamme von den Eltern seiner Mutter, selbstverständlich werde es mitgenommen. Die beigen Vorhänge im Wohnzimmer sind ein Zweifelsfall. Wallner sagt: „Nein.“

Im Schlafzimmer steht ein Einzelbett. Es sieht alles danach aus, als ob Wallners Vater allein lebte. Auf dem Nachttisch rechts neben dem Bett: ein halb gefülltes Glas Wasser. Wallner kann seinen Vater sehen, er liegt mit dem rotsilber gestreiften Pyjama, den er getragen hat, als Wallner noch ein Kind war, im Bett, in der linken Hand ein Buch, lesend, mit einem Griff der rechten, weiter lesend, führt er das volle Glas an den Mund, trinkt, stellt das halb gefüllte Glas auf den Nachttisch, räuspert sich. Wallner hört Ana, die im Bad Gegenstände in einen Müllsack wirft.

Wenn man mit Gegenständen in Berührung kommt, bei denen eine heftige Gefühlsreaktion wahrscheinlich ist (Beispiele: die flach und nahezu faltenlos auf dem Bett liegende Decke und das Kissen, die Wallner jetzt hastig in Müllsäcke stopft), sind die Überlegungen hilfreich, daß sein Vater ihn damals wegen des Kredits angelogen hat, das heißt generell gegen ihn und seine Firma gewesen ist, dann: Wallners Mutter nicht wirklich geliebt haben kann, weil er bald nach ihrem Tod und vielleicht schon davor zahlreiche Verhältnisse mit Frauen hatte, die Wallner zuwider waren, und: sein Vater sich seit ihrem Streit nicht mehr bei ihm gemeldet hat und daß daher Wallner ihm, seinem Vater, keine Träne nachzuweinen habe. Wallner spürt, daß gerade eine Welle auf ihn zurollt, sie wird ihn lähmen, er wird die Fassung verlieren, die Strategie, die er sich in den letzten schlaflosen Nächten und auf der Hinfahrt zurechtgelegt hat, droht in sich zusammenzufallen, er schafft das nicht, es geht nicht, er muß sich auf irgend etwas konzentrieren, um Gottes Willen, irgend etwas.

Wallner hat Hunger bekommen. Die Einbauküche macht einen neuen Eindruck, sie riecht nach Zitrone, ist sehr sauber, wahrscheinlich hat Ana sie aufgeräumt. Wallner öffnet den Kühlschrank mit der hellen Holzverkleidung, auch zu Hause in Cham öffnet er immer, wenn er in die Küche kommt, als erstes den Kühlschrank mit der weißen Plastikverkleidung. Der Kühlschrank ist leer und riecht nach Zitrone. Wallner öffnet das Gefrierfach, in dem sich mehrere Pizzas con Funghi befinden.

Günter Wallner mag Pilze.

Nein.

Günter Wallner mochte Pilze.

Wallner inspiziert die Schränke über der Ablage. Er nimmt die XL-Packung der weißen Schokolade mit Nüssen, die bereits angebrochen ist, schaut auf das Verfallsdatum, November in zwei Jahren, und bricht zwei Rippen ab.

Im Wohnzimmer hat Ana schon die Fotos in den Silberrahmen von der Kommode, die sich Wallner noch nicht angesehen hat, in einen Karton gelegt und zieht gerade zwei Leitz-Ordner, wohl mit Rechnungen oder anderen Papieren, aus dem untersten Regal des Schranks. Wallner macht den Kasper („den Kasper machen“ = gebückt gehen plus sich den Bauch reiben plus „HungerHungerHunger“ sagen), um Ana zu zeigen, daß es ihm nichts oder besser: wenig ausmacht, die ehemalige Wohnung seines Vaters aufzulösen oder besser: daß er den Tod seines Vaters relativ gut verwindet.

Es gilt, den Inhalt der Truhen, Schränke und des Schreibtischs mit voller Konzentration auf Schnelligkeit plus unter optimaler Ausnutzung des Platzes in den Kartons auszuräumen. Später, beim Auspacken, zu Hause, kann der Inhalt dann näher betrachtet werden.

Wallner beugt sich vor und öffnet den Deckel der Truhe im Schlafzimmer. Er sieht seinen Vater, der sich vorbeugt und den Deckel der Truhe öffnet. Als er die Müllsäcke mit den Kleidungsstücken vor die Haustür trägt, ist es draußen, ohne daß Ana und er es gemerkt hätten, Nacht geworden.

Das Hotel Schmidt liegt gegenüber der S-Bahn-Station. Die Jugendlichen auf den Bänken haben ihnen beim Parken und Aussteigen zugesehen. Wallner möchte lieber gleich etwas essen, bevor er auf das Zimmer geht und duscht, weil er Angst hat, daß er es dann nicht mehr aus dem Bett schafft, er spürt seine Arme und Beine. In der Gaststube steht ein Mann hinter dem Tresen — der Wirt? Herr Schmidt? — , der zuerst lächelnd Ana und dann, nicht mehr lächelnd, mit einem durchdringenden Blick Wallner begrüßt und auf einen Tisch weist, an dem lediglich ein älteres Ehepaar sitzt.

Als der Wirt das Essen bringt, stellt er sich wie zu einer Rede mit angewinkelten Ellbogen und gefalteten Händen auf und wünscht „Einen Guten Appetit“. Noch einmal sieht er Wallner mit diesem Blick an, dann wieder Ana, lächelnd.

Wallner steckt ein Kartoffelstück in den Mund, kaut, fragt, ob Ana denn eigentlich beim Grab gewesen sei, ob da alles glattgegangen sei, hört zu kauen auf und hält die Gabel über dem Teller, ohne sie zu senken oder zu heben. Ana sagt, sie sei dagewesen, dieser Mann am Friedhof, der wohl dafür zuständig sei, habe ihr den Eintrag von der Feuerbestattung und der Urnenbeisetzung gezeigt, am Grab hätten einige Kränze gelegen, einer wohl von der Kanzlei, in der Wallners Vater früher gearbeitet habe, sie habe den Betrag für die Instandhaltung des Grabs für die nächsten zwei Jahre von einem Teil der Entschädigung gezahlt, die sie von der Deutschen Bahn erhalten haben. Wallner kaut weiter, will sprechen, so etwas wie „Na schön“ oder „Na dann paßt ja alles“, kann aber nichts sagen, er bringt kein Wort heraus, damit Ana es nicht sieht, tut er so, als huste er in die Serviette.

Als Wallner in das Zimmer tritt, fällt sein erster Blick auf Anas BH und ihren Schlüpfer, die auf dem Bett liegen, die zerwühlte Decke.

08

Wallner läßt die Akte aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen, nimmt seinen Übergangsmantel von der Garderobe im Sekretariat, sagt zu Frau Beck, daß er noch etwas zu Hause vergessen habe und in einer Viertelstunde wieder zurück sei, eilt durch den Flur, das Treppenhaus hinaus. Es ist bewölkt. Auf dem Parkplatz kommt ihm Ana entgegen. Sie fragt, ob etwas passiert sei, warum er es denn so eilig habe. Sie hat dabei wieder diesen Ausdruck, der Wallner immer an eine Kuh erinnert. Mit der flachen Hand schlägt er ihr ins Gesicht. Wortlos ist sie nach hinten gekippt, noch mal, Ana kommt ihm entgegen, sagt etwas mit Kuh-Ausdruck, Wallner schlägt ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, auf die Nase, aus der sofort Blut rinnt.

Mit normalem Tempo, ohne sich zu hetzen, fährt er nach Hause, packt in seinen Koffer Kleidung für zehn Tage. Er schaut sich im Haus um, Geld? Hat er. Noch irgendwas? Er braucht ja nichts. Einen Regenschirm vielleicht. Den Wagen parkt er vor dem Bahnhof, in dem kaum etwas los ist. Wallner löst eine Fahrkarte nach Paris.

„Einfach?“ fragt die Frau am Schalter.

„Einfach“, sagt er.

„Da müssen Sie in Nürnberg und München umsteigen“, sagt die Frau.

„Weiß ich“, sagt Wallner.

Keine fünf Minuten, und der Regionalexpreß nach Nürnberg fährt ein. Wallner setzt sich ans Fenster. Er sieht den Kirchturm von St. Jakob vorbeiziehen, den insolventen Axmann-Möbelmarkt mit den leeren Auslagen. Am Horizont ist der Gewerbepark von Chammünster zu erkennen, das Flachdach von Wallner & Wiget, das Fenster seines Büros, ganz oben, das zweite von links, in dem noch Licht brennt. Schon ist die Silhouette der Stadt vor dem dunkelgrünen Schloßberg zu einem schwarzen Strich zusammengeschrumpft.