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Das Telefon klingelt.

„Beck. Ich sollte Sie daran erinnern, daß der Herr Schmaderer um elf einen Termin hat“, sagt Frau Beck.

„Danke Ihnen“, sagt Wallner.

Mit einem Ruck ist er aufgestanden. Schmaderers Akte liegt aufgeschlagen vor ihm. Wallner geht ins Sekretariat, Frau Beck schaut überrascht vom Computer auf. Sie hat nicht mit Wallner gerechnet. Wenn sie sich, wie jetzt, sicher vor ihm glaubt, macht sie Internet-Shopping, Wallner weiß das, aber das spielt in diesem Augenblick keine Rolle. Er nimmt seinen Übergangsmantel von der Garderobe und sagt: „Ich habe noch etwas Wichtiges zu Hause vergessen, bin in einer Viertelstunde wieder zurück.“ Er eilt durch den Flur. Ana kommt ihm entgegen, er dachte, sie komme erst um elf in die Firma. Sie lächelt ihm zu.

„Hast du wieder was liegengelassen zu Hause?“ fragt sie.

Der Streit gestern abend wegen dem Sofa, das sie, ohne Wallner zu fragen, bestellt hat, scheint kein Thema mehr zu sein.

„Ja“, sagt er kurz und weicht ihrem Blick aus. Wallner spürt förmlich, wie sich ihre Gesichtszüge verhärten, wie Ana das hier verletzt. „Entschuldigung“, sagt er schnell, geht zurück, umarmt sie, „Entschuldigung“, hält sie fest, möchte sie nicht loslassen, „ich muß weiter“, er schluckt, wendet sich ab, geht durch die Glastür.

Im Treppenhaus hallen seine Schritte, als er hinunterläuft, viel zu laut, der Kieselstein in seinem Kopf drückt, es ist kaum auszuhalten. Auf dem Parkplatz atmet Wallner tief ein und aus, geht, als ihm schwindelt, in die Hocke, der teure Mantel schleift im Dreck, die Sonne scheint, keine Wolke ist am Himmel. Auf dem Weg nach Hause fällt Wallner ein, daß Costin ja heute freihat. Costin wird ihn sehen, fragen, was los sei. Wallner fährt direkt zum Bahnhof. Er kann sich ja später alles, was er braucht, kaufen. Er beschließt, die Fahrkarte erst im Zug zu lösen, und zwar sukzessive, eine nach Nürnberg, eine nach München, eine nach Paris, damit, falls Nachforschungen angestellt werden und die Frau am Schalter gefragt wird, seine Spuren verwischt sind.

Wallner setzt sich auf die Bank am Bahnsteig. Der Regionalexpreß nach Nürnberg hat Verspätung. Wallner weiß plötzlich, daß er nicht in den Zug nach Nürnberg, nach München oder nach sonstwohin einsteigen wird, er hat es die ganzen letzten Minuten gewußt, seit er das Firmengelände verlassen hat, um elf ist der Termin mit Schmaderer. Wallner steht auf, aus dem Augenwinkel hat er bei dem Getränkeautomaten neben ihm, ein paar Meter entfernt, einen Mann warten sehen, ungefähr 1,85 groß, leicht untersetzt, schon etwas älter, brünettes Haar, spitze Nase, blauer Mantel, Wallner läuft es eiskalt über den Rücken. Was ist denn, wenn ihn jemand hier sieht, jemand, der ihn kennt, jemand, der Schmaderer kennt, der Wiget kennt und der ihm, vielleicht zufällig, erzählt, daß er Wallner werktags vormittags am Bahnsteig traf, übrigens, weißt du, wen ich neulich.

Auf der Treppe der Unterführung hat Wallner sich noch einmal kurz umgedreht, ob ihm der Mann am Bahnsteig nachsieht. Der Mann hat ihm in die Augen geblickt, auch er hat sich auf der Treppe zur Unterführung gegenüber umgedreht. Der Mann ist Wallner. Ungläubig betrachtet er sich selber noch ein paar Sekunden im Spiegel auf der Rückseite des Getränkeautomaten.

Auf dem Weg vom Parkplatz zur Firma drückt Wallner auf den Knopf am Schlüsselbund, um das Auto abzusperren. Summend klappen sich die Seitenspiegel ein. Wallner steigt die Treppe hoch, geht durch den Flur, im Sekretariat schüttelt er Schmaderer, der schon wartet, die Hand, hält ihm die Tür zum Büro auf. Schmaderer setzt sich, Wallner schaut auf die aufgeschlagene Akte vor sich und sagt: „Ja, Herr Schmaderer, also das mit dem Rabatt, das verhält sich wie folgt. Bei einer Abnahme von drei Traktoren gewähren wir einen Rabatt von sieben Prozent.“

09

Er schließt den Kühlschrank und belegt einen Toast mit Emmentalerscheiben. Jemand kommt die Treppe heruntergerannt.

Costin steckt seinen Kopf durch die angelehnte Küchentür und sagt: „Ciao, Tata. Heute schon so früh zu Hause?“

Wallner sagt: „Und du? Diese Tanzgeschichte?“, während er überlegt, wann die Angst, die er immer hatte, als er dieses winzige Baby in den Armen hielt, als Costin auf seinem Rolli in der Garageneinfahrt seine Kreise drehte, als Costin auf der gemeinsamen Radtour nach Tschechien außer Sichtweite vorausfuhr, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren, wann diese Angst, daß Costin (und auch Ana, als sie Costin jede Woche zum Gesangsunterricht nach Regensburg brachte) etwas zustoßen könnte, aufhörte.

10

8. Juni

Nürnberg. Horten. Karstadt. Saturn.

11

Er hat die Hand flach auf den Schreibtisch gelegt und versucht, etwas langsamer zu atmen. Vielleicht haben sich an seinen Mundrändern kleine weiße Spuckeablagerungen gebildet. Wiget hat die ganze Zeit über bewegungslos mit übereinandergeschlagenen Beinen dagesessen und hat sich den Bart gestrichen.

Er sagt: „Wenn du das jetzt so erklärst, Stefan, mit deinem Vater und so, dann wird jetzt natürlich einiges klarer. Ja, jetzt wird einiges klarer. Ich meine, man konnte ja schon so was ahnen, im Prinzip. Das war ja auch jetzt alles nicht so tragisch, mir ist das eben aufgefallen. Eben auch, weil das früher nie so war, daß du so neben dir stehst, daß du die Leute so anfährst, wir hatten ja auch immer, würde ich sagen, wirklich ein sehr gutes Verhältnis.“

„Ja“, sagt Wallner und nickt einmal kraftvoll.

„Ja, und wie gesagt, dann ist es auch nicht so schlimm, wenn ich das jetzt weiß, aber paß halt besser auf, mit den Angestellten“, sagt Wiget.

Es entsteht eine Pause.

„Wie ist das zu Hause momentan, mit euch?“

„Hat sie irgendwas gesagt?“ fragt Wallner schnell und hat kurz von Wiget weg nach links auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz gesehen, Wiget hat „Hmhm“ gemacht und mit den Schultern gezuckt.

„Ich bin da oft unbeherrscht ihr gegenüber, und ich weiß auch, daß ich sie da oft verletze in letzter Zeit, und das ist so“, Wallner macht eine kurze Pause, „Scheiße“, schaut Wiget ins Gesicht, der sich noch immer den Bart streicht, und fährt fort, „daß ich da nicht mit dem Tod vom Papa, ich meine von meinem Vater, klarkomme und daß ich mich da jetzt auch noch an der Ana abreagiere. Ich will das nicht. Und ich. Ich schäme mich, Uli. Ich schäme mich.“

Es entsteht eine Pause.

Wiget fragt: „Habt Ihr schon darüber“, Wallner unterbricht ihn und sagt: „Wir werden das noch machen, wir müssen das machen, aber du weißt ja, wie es ist, von ihr kam jetzt noch nichts, und sie ist sich sicher im klaren darüber, wie schwierig das alles ist, für mich, aber alles weiß sie natürlich auch nicht. Wir werden darüber reden. Ja.“

Es klopft.

Frau Beck tritt ein und sagt: „Herr Wiget, etwas Dringendes wegen Wolnzach. Ein Herr Kaiser.“

Wiget steht auf. Frau Beck steht noch in der Tür. Wallner möchte zu Wiget gehen und ihn umarmen und noch einmal Danke oder etwas Ähnliches sagen, bleibt dann aber stehen, hebt den Arm und sagt: „Also, bis nachher dann, Uli, gell“ und lächelt kurz Frau Beck zu, die zurücklächelt. Nachdem sie die Tür geschlossen hat, setzt er sich wieder an seinen Schreibtisch und legt die Hand flach darauf. Er schaut auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz, links, und schlägt einmal sehr leicht mit der flachen Hand auf die Tischfläche.

12

Im Sekretariat ist jemand. Eine schwarze Gestalt hat sich hinter der Milchglasscheibe bewegt, jetzt wieder, obwohl Frau Beck das Gebäude schon längst verlassen hat. Sie verabschiedete sich etwa vor einer halben Stunde bei ihm. Er hat sie vom Fenster aus über den Parkplatz zu ihrem silbernen Ford stöckeln sehen. Er steht auf. Ihm ist etwas mulmig. Wer kann noch im Gebäude sein? Nur Breitenbacher sitzt noch in seinem Häuschen an der Pforte. Wallner geht leise zur Tür und reißt sie mit einem Ruck auf, er meint, gerade eben noch im geöffneten Spalt der Tür zum Flur ein Bein gesehen zu haben. Wallners Herz rast. Er tritt in den Flur, das Licht hat sich automatisch eingeschaltet. Der Flur ist leer. Wenn jemand vor Wallner aus dem Sekretariat gegangen ist, dann hätte das Licht schon brennen müssen; unmöglich, daß jemand die Bewegungssensoren überlistet. Aber da war jemand, Wallner ist sich sicher. Ratlos schließt er die Tür. Die Blätter des Ficus neben dem leeren Schreibtisch von Frau Beck zittern für einen Moment vom Luftzug und hängen dann wieder bewegungslos da.