In der Küche steht ein kleiner Umzugskarton auf dem Boden. Costin weiß, daß sich darin Mamas Espresso-Maschine befindet, blau, mit der roten Aufschrift Espresso. In allen Zimmern des Apartments stehen noch Kartons, auch mit Sachen von ihm selbst, aus Australien. Vasen, das Didgeridoo, gerahmte Fotos, Einzelteile eines Regals, dunkelbraun. Costin hat die Kartons wenigstens schon mal an die Stellen gestellt, wo dann später einmal die in ihnen verpackten Sachen stehen sollen — Costin muß halt nur mal die Zeit und die Kraft für diesen Auspack-Act finden. Dadurch, daß die Kartons schon so lange einfach so rumstehen, ist er sich aber in einigen Fällen nicht mehr so ganz sicher, was eigentlich der ein oder andere Karton beinhaltet: Vase, Fotos oder Regaleinzelteile. Das Ganze wird mal wie Weihnachten werden, er sieht es schon kommen.
Irgendwie hatte er beim Duschen, Anziehen, U-Bahn-Fahren die ganze Zeit über so einen Gedankenflash aus Münchener Freiheit, Flugzeugabsturz, Mama, Bukarest, Cham gehabt, dazu immer diesen Du-Song im Ohr, so daß er gar nichts von dem Weg mitbekommen hat und fast ein bißchen überrascht gewesen ist, als er plötzlich — nur eine halbe Stunde verspätet — vor dem Salamander-Schuhgeschäft stand, in dessen Keller sich das Studio Dicke Klunker befindet, er mußte die Route schon so intus haben, daß er sie sozusagen blind gegangen war.
Die Aufnahmen sind schon voll im Gang gewesen, als er in den Regieraum kommt, er hat an der Tür gewartet, bis Tau und ihre Band hinter der Glasscheibe im Aufnahmeraum ihren Song beenden. Skjold am Mischpult (Spitzname nach seiner ersten und bisher einzigen goldenen Schallplatte vor fünf Jahren: Skjold ist Gold) nickt ihm kurz zu. Tau singt gerade den zweiten Song von dem Demo-Tape, das damals, vor ein, zwei Monaten per Post, unaufgefordert, an Costins Record-Label BIBO (= Breathe in and Breathe out) geschickt wurde und auf seinem Schreibtisch gelandet war. Tatsächlich ist es dieser zweite Song — wie das gesamte Album von Tau in einer Fantasiesprache gesungen —, der in Costin, jedesmal, wenn er das Tape später bei sich zu Hause angehört hatte, Erinnerungen an dieses erste Hörerlebnis, damals, in seinem Büro, hochkommen läßt.
Costin hört: Taus entrückten Gesang, Costin sieht, als ob das jetzt schon der Clip zum Song wäre: das geöffnete Fenster, der blaue Himmel, Background, leise: Kinderstimmen vom Spielplatz, voll der Kitsch eigentlich.
Als der Megahall des letzten Gitarrenakkords verklungen ist, hat Skjold neben dem Mischpult auf den Knopf zum Sprechen gedrückt, für ihn sei es OK so, Costin ist dazugekommen und hat „Hallihallo“ ins Mikro gesagt. Tau und die anderen haben sich zum Regieraum umgedreht, Tau hat die Augen zugekniffen, den Kopf gereckt, damit sie durch das spiegelnde Glas sieht, jetzt hat sie Costins Gesicht erkannt, sie lacht, die Tau, Costin weiß, daß er diesem Lachen irgendwann einmal nicht widerstehen können wird.
Die Band möchte den Song noch einmal aufnehmen, das Gitarrensolo könne man ja aus dem ersten Take nehmen und nachher reinschneiden. Auf dem Bildschirm ist das Gitarrenriff des Intros als gezackte grüne Linie erschienen, die, als Tau einsetzt, nach oben ausschlägt.
Skjold dreht sich zu Costin und sagt, er könne sich da megagut Streicher im Background vorstellen; Costin ist voll d’accord, er beginnt, die Melodielinie zu singen, die man dann nachher in der Postproduction aufnehmen müßte, ein Streichquartett vielleicht, wenn noch Geld dasein sollte, ansonsten ein Synth.
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In dem Moment, wo er ihnen den Vertrag und den Spezial-Vertrag-Unterschreibe-Gold-Füller über den Tisch reicht, haben der Sänger und der Gitarrist dieses Face bekommen. Er kennt dieses Face, er hat dieses Face auch gehabt, als er zusammen mit den anderen PingPongs den Plattenvertrag bei MA unterschrieb, Olaf Erdrich saß damals da, wo er, Costin, jetzt sitzt, die PingPongs da, wo jetzt die KOPs alias Kings of Pop sitzen.
Er kann sich so ziemlich genau vorstellen, was in diesem Moment in den Bandmitgliedern vorgeht, den ganzen Sekunden-Film, der da gerade vor ihren Augen abläuft, vom Dilettanten-Anfang, vom ersten Katastrophen-Gig über die ersten Erfolge, die ersten bandinternen Streitereien bis hier, Büro des Plattenchefs, Mahagonischreibtisch, grünbezogene Stühle mit Metallarmlehne und die Frage, ob sie Kaffee oder einen Softdrink möchten.
Irgendwie hat er dieses Face jetzt schon ein paarmal gesehen, auch bei den anderen Bands, die bisher bei ihm gesignt haben, und irgendwie hat er dann selber immer, so wie jetzt auch, dieses Champagner-ich-habs-geschafft-und-bin-der-König-der-Welt-Kribbeln bekommen, vielleicht auch selbst dieses Face gehabt. Damit das Label funktioniert, kann es jedenfalls nur von Vorteil sein und ist vielleicht sogar essentiell, daß der Chef des Labels schon mal am eigenen Leib all das erlebt hat, was jetzt den Bands so oder so ähnlich noch bevorsteht. Er würde aus diesem Grund, weil er nämlich weiß, wie das alles ist, nie etwas verlangen, was er nicht auch von sich selber verlangen würde. Also, wenn er die Bands mal kritisiert — was sein muß —, dann eben deshalb, weil er auch sich selber ständig kritisiert; wenn er sie lobt, dann eben deshalb, weil er sich selber auch ab und zu lobt (hey, Costin, du krasser Hund), und wenn er ihnen jetzt so Sachen auf den Weg mitgibt, gleich, dann ist das ja im Prinzip auch nichts anderes, als was er sich selber schon tausendmal in den verschiedenen Situationen beziehungsweise was ihm PISC alias der innere Costin gesagt hat.
Die eingenähten Metallschlaufen an der Lederjacke des Sängers der KOPs haben bei der Vertragsunterzeichnung aneinandergeklackt. Als Band, die musikalisch deutlich auf die Quincy-Jones-Phase Michael Jacksons anspielt, haben die Mitglieder der KOPs — Musik- und Politologie-Studenten aus Tübingen — von ihrem Look her nahezu nichts mit den späten 80ern, frühen 90ern gemein, gut, der Schlagzeuger und der Bassist sind Mulatten und auch in Nicht-Bühnen-Situationen wird manchmal der Moonwalk eingelegt, auf Überraschung beziehungsweise Freude mit „Shamo’!“ reagiert.
Das Duo Jones/Jackson habe sich ja damals, nach Dangerous, nicht weiterentwickelt; Justin Timberlake als Sohn Jacksons im Geiste habe es dann vorgemacht: Diese frühzeitig abgebrochene Entwicklung des Duos setzen die KOPs jetzt, Jahrzehnte danach, fort und beantworten die Frage, welche Musik Jackson heute machen würde, hätte er sich nicht exzessiv operieren oder besser transformieren lassen, wobei die Zunahme der Operationen nach der Trennung des väterlichen Mentors Jones proportional zum Nachlassen der eigenen Schaffenskraft stehe — so der Sänger und Kopf der KOPs.
Dadurch, daß hier Musik, die an sich Chartpotential besäße, mit einem intellektuellen Diskurs (was ist das denn, bitte?) verbunden werde, komme low zu high, kurz, die KOPs hätten das Zeug, einmal zu den neuen heimlichen Lieblingen des Undergrounds zu werden, so Georgi (nie ohne ihren Hund Timmi unterwegs, mit dem sie jetzt auch nebenan in ihrem Büro sitzt), die burschikose Mittdreißigerin mit schwarzem Wuschelkopf, die die KOPs letzten Sommer auf dem Störtebeker-Open-Air in Stralsund entdeckt hatte und die Costin vom insolventen bayerischen Indie-Label Maulwurf-Records als Talent-Scout für BIBO übernommen hatte.
Das Geräusch, das die Spitze des Goldfüllers auf dem Papier macht, wenn jetzt die Bandmitglieder im ansonsten stillen Büro den Vertrag mit ihren Namen unterzeichnen, das Kratzen, ist wohl der Sound, nach dem sich jeder von ihnen, wie auch mal Costin, so lange gesehnt hat und der ihnen von jetzt an im Gedächtnis bleiben wird, das Geräusch des Signens: einfach nur geil in diesem Moment.