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Lore geht zum Schlußapplaus des Publikums in ihrem trotz ihrer korpulenten Figur hauteng geschnittenen hellbraunen Hosenanzug mit Nadelstreifen — Autsch! — von ihrem Platz auf einer der Treppen zwischen den Zuschauerreihen, wo sie die meiste Zeit während der Sendung gestanden hatte, auf die Bühne und verabschiedet nacheinander die Gäste mit Handschlag.

Sie sagt: „Das war Lore mit dem Thema ‚Sind wir zu viele?‘ Nächste Woche zur selben Zeit heißt es dann ‚Das Leben danach‘, unter anderem mit jemandem, der von sich sagt, er sei schon sieben Mal geboren worden, und mit Costin Wallner alias CO, Ex-Popstar, Ex-Alm-Bewohner und was weiß ich noch alles. Also, bleiben Sie mir treu! Ihre Lore.“

Als der Applaus abrupt, wahrscheinlich auf ein Zeichen eines Assistenten hin, verstummt und auf dem Monitor im Warteraum in einer starren Kameraeinstellung nur noch die halbdunkle Bühne gezeigt worden ist, von der inzwischen mit kleinen vorsichtigen Schritten auch der letzte Gast verschwunden ist — das ehemalige Mitglied einer internationalen Gruppe von Wissenschaftlern, die bis vor kurzem zur Erforschung alternativer Wohnmöglichkeiten zwei Jahre lang von der Außenwelt abgeschnitten in einer Tauchstation lebten und sich unter anderem monatelang wegen schlechten Fischfangs ausschließlich von Plankton ernährten („Algen schmecken super!“, so der Wissenschaftler aus Kiel, der jeden Satz gleichzeitig mit den Händen in Taucher- beziehungsweise der am Ende zwischen der anscheinend nicht mehr sehr kommunikationsfreudigen Gruppe üblich gewordenen Taubstummensprache mitformte) —, lehnt sich Costin auf dem Sofa zurück, faltet die Hände hinter dem Kopf und versucht aus den Augenwinkeln heraus festzustellen, wer der anderen Gäste der nächsten Sendung am ehesten so aussieht, als sei er schon siebenmal geboren worden. Der Mann mit Glatze und dem zerstörten Gesicht, rechts neben ihm, der solariumbraune Mann mit schlecht blondiertem Haar und Goldkette, links von ihm, oder der daneben, der so Mitte 20 sein muß und, seit er hier sitzt, Gameboy spielt.

Die Tür hat sich geöffnet, eine Frau sagt, man solle mit in die Maske. Auf dem Flur zwängt sich Costin an weiteren Gästen der vorigen Sendung vorbei, einer 21köpfigen Familie aus Braunschweig in akuter Wohnungsnot, deren Mitglieder in diesem Moment, aus der unmittelbaren Nähe betrachtet, relativ wenig äußere Ähnlichkeiten miteinander aufweisen. Und hat nicht der Steppke mit dem glatten blonden Haar den anderen mit dem gelockten schwarzen Haar gerade gefragt, wie denn sein Agent heiße, seiner sei Kacke, das hier sei erst sein zweites erfolgreiches Casting gewesen? Lore, auf die eben eine junge sportive Frau mit Headset einredet, hat Costin, den sie vor sechs oder sieben Jahren zusammen mit den anderen PingPongs eingeladen hatte, mit „Hallo, Costin, sieht man dich mal wieder“ begrüßt, bevor sie die junge sportive Frau mit Headset stehenläßt und hinter der Tür mit der Aufschrift Garderobe verschwindet.

Im Spiegel, dem er in der Maske gegenübersitzt, sucht Costin sein Gesicht nach Falten und sein Haar nach grauen Strähnen ab, schließt die Augen, als die Visagistin ihm über die Nase und die Stirn pudert. Er geht zurück durch den Flur, in dem jetzt ein Kleiderständer mit Kinderkleidung steht und hinten, ganz am Ende, die junge sportive Frau mit Headset allein redend auf und ab geht; er setzt sich wieder auf seinen Platz auf dem Sofa im Warteraum, faltet die Hände hinter dem Kopf. Der Monitor zeigt die halbdunkle Bühne mit den vier Stühlen für die nächsten Gäste — Lore hat immer vier Gäste —, aus dem Hintergrund kommt das gedämpfte Geräusch des Publikums, das für die nächste Sendung Platz nimmt. Lore betritt die Bühne, sie trägt ein 19.-Jahrhundert-Rüschenkleid, so wie es jetzt wieder Mode ist, vereinzelt wird applaudiert, man ist wohl etwas verwirrt, daß es schon losgehen soll. Lore hebt beschwichtigend die Hände, sagt in das Mikro in ihrer Hand: „Hallohallo, liebe Leute“, sagt, daß es gleich losgehe.

Costin versucht erneut aus den Augenwinkeln heraus festzustellen, wer von den anderen Gästen im Zimmer, von denen inzwischen auch der letzte, der Mann mit dem zerstörten Gesicht, vor dem die Maske kapituliert zu haben scheint, zurückgekommen ist, am ehesten so aussieht, als sei er schon siebenmal geboren worden. Die junge sportive Frau mit dem Headset öffnet die Tür und teilt mit, in welcher Reihenfolge sie auftreten. Costin, den sie Herrn Wallner genannt hat, ist der zweite Gast heute und kommt nach dem Jungen mit dem Gameboy, der jetzt aufgestanden ist und mit der Frau mitgeht. Auf dem Monitor kommt Lore mit Applaus auf die hell erleuchtete Bühne, sie hebt beschwichtigend die Hände und sagt durch das Mikro in ihrer Hand: „Hallohallo, liebe Leute.“

Die Einstellung zwischen Lore, die den Jungen ankündigt, und der leeren Kulisse, aus der er dann endlich tritt, das Publikum hat schon aufgehört zu klatschen, wird später geschnitten werden, Costin ist sich da sicher.

„Peter E., dessen Name für die Sendung geändert wurde, ist mit 17 Opfer einer Familientragödie geworden“, sagt Lore, die neben Peter E. Platz genommen, eine Halbbrille aufgesetzt und auf eine Stichwortkarte geschaut hat.

Peter E.s Vater hat eines Nachts zu Hause im Streit mit Peter E.s Mutter deren Kopf mehrmals auf die Kante des Eßzimmertischs geschlagen. Peter E. hat währenddessen in seinem Kinderzimmer geschlafen und aus für ihn unerfindlichen Gründen nichts von dem Ganzen mitbekommen. Erst als die Polizei und später die Sanitäter eintrafen, von den Nachbarn alarmiert, ist er aufgewacht und hat den blutverschmierten Eßtisch, seine Mutter mit eingedrücktem Kopf auf der Bahre liegen, seinen Vater in Handschellen auf dem Eßzimmerteppich knien gesehen.

„Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon tot“, sagt Lore. „Das war vor sechs Jahren. Möchtest du uns sagen, wie diese sechs Jahre für dich gewesen sind, Peter?“

Costin erinnert sich, daß er einmal vor einiger Zeit eine Crime-Show im Zweiten gesehen hat, wo genau dieser Fall oder jedenfalls so was Ähnliches vorkam, und in den nachgestellten Szenen, verwackelt und in Zeitlupe, Peter E.s Mutter beziehungsweise eine Frau von Peter E.s Vater beziehungsweise eine dunkle Gestalt an den Haaren gepackt und mit dem Kopf auf einen Gegenstand geschlagen wurde, bis ihr das Blut aus der Nase und übers Kinn gelaufen war.

Peter E. sagt, es habe lange gedauert. Er habe ja auch niemanden gehabt. Sein Vater sei im Gefängnis, er wolle ihn auch gar nie wiedersehen. Er habe allein gewohnt, er sei ja damals gerade volljährig geworden. Nur seinen Therapeuten habe er gehabt. Nur sehr langsam werde er wieder der, der er vor dieser Nacht gewesen sei. Noch immer durchlebe er diese Nacht und habe Angst, daß sein Vater plötzlich vor der Tür stehe. Je mehr Bekanntschaften und Freunde er aber habe — er studiere jetzt Informatik —, desto seltener kämen diese Zustände. Desto rascher normalisiere sich alles. Lore hat Peter E. mehrmals, während er ihre Frage mit monotoner Stimme beantwortet, bei der Hand gefaßt. Am Ende hat sie ihre Hand auf seine Schulter gelegt, hat sich zu ihm vorgebeugt und irgend etwas sehr Positives, Aufbauendes, Mütterliches zu ihm und dem Publikum gesagt. Sie stellt diesen Lore-Touch her, diesen Eindruck, daß sie sich wirklich darum kümmert, was ihre Gäste erlebt haben und wie es ihnen geht, deswegen auch die Quote, deswegen der feste Sendeplatz seit über zehn Jahren, deswegen kein Palaver wegen Lores Gewicht, deswegen auch keine second thoughts seitens Costins, als er eingeladen wurde.

Inzwischen ist die Assistenten-Tante — Costin nennt jetzt die junge sportive Frau mit dem Headset Assistenten-Tante — gekommen und hat ihn abgeholt. Zur Begrüßung hat Lore Costin neben die Wange, rechts, links, in die Luft geküßt und „Hallo, Costin, wie geht es dir“ gesagt.

Costin nimmt neben Peter E. Platz, der glücklich aussieht. Peter E. grinst. Auch Lore schmunzelt. Hat Costin auf dem Weg hierher was verpaßt?