Costin öffnet die Badezimmertür, Romy steht da, sie steht tatsächlich direkt, fünf Zentimeter entfernt vielleicht, vor ihm, in einem beigen Kord-Hosenanzug, den er ja noch nie an ihr gesehen hat. Sie sagt: „Morgen“ und daß sie schnell mal ins Bad müsse, um sich frisch zu machen, sie habe ja um neun diese Veranstaltung in der Kulturbrauerei. Er hat seinen Mund verzogen, sie fragt ihn, ob er wieder Schmerzen habe, er bejaht es, obwohl es im Moment nicht weh tut, zieht den Knoten an seinem Bademantel enger und hinkt, den Arm um Romys Schulter, in die Küche, läßt sich auf den Stuhl am Eßtisch plumpsen. Romy fragt, ob sie ihm Tabletten holen soll, ob sie ihm was zu essen machen soll, ob er gut geschlafen habe, daß sie aber jetzt wirklich wegmüsse, er legt seinen Kopf an ihre Brust, umarmt sie, sie drückt ihren Mund an seine Stirn und hat einen Laut gemacht, „Ach“ oder „Och, du Ärmster“, er mag diesen Laut, er möchte, daß sie ihn wiederholt.
Bevor sie aus der Küchentür geht, hat sie gesagt, Nero habe mehrmals angerufen, wegen des Termins mit Martin, und Tosca, mit der er, Costin, doch heute eigentlich verabredet war, Romy hatte ihn aber nicht wecken wollen, auf dem AB sei auch noch einiges für ihn.
Er hört die Haustür ins Schloß fallen, im Kühlschrank haben sich hinter der Klarsichtfolie, in die der Schinken eingewickelt ist, Tropfen gebildet. Er schaltet den kleinen Steinzeit-Fernseher auf der Konsole an — ein Erbstück seiner Mutter — und stellt den Ton aus. Eine Eilmeldung auf der Titelseite der BZ berichtet von einem Flugzeugunglück in Australien, bei dem alle Insassen umgekommen sind, 10 Uhr Ortszeit, also am Abend hier. Er merkt, daß er, während er den mit Schinken belegten Toast kaut, grunzt, schon die ganze Zeit, ein Schweinelaut, ihm ist das erst jetzt aufgefallen, macht er das schon ein Leben lang? du bist so widerlich, genau diesen Satz hat er für einen Moment im Kopf und kaut dann weiter. Im Fernseher ist auf einem blauen Hintergrund die heute-Uhr erschienen, die 19 Uhr anzeigt. Weil er keinen Bock hat, die Fernbedienung zu holen, sich den Schmerz im Knie vorstellt, wenn er jetzt aufsteht, sieht er den stummen Lippenbewegungen dieser blonden Moderatorin zu, die er mal vor zehn Jahren oder so bei einer Gala in echt getroffen hat und die tatsächlich nicht nur so wie im Fernsehen, sondern damals so wie jetzt aussah, und auf die er ein bißchen steht, den Luftaufnahmen mit Wrackteilen in einer steppenartigen Gegend, dem Outback, ein Landkartenausschnitt mit Sydney, von wo aus eine rot gepunktete Linie beginnt, die dann kurz vor Darwin abbricht, eine Flughafenhalle, also jetzt entweder in Sydney oder am Zielort, nein, am Zielort: Da ist eine Frau, die ein Taschentuch vor den Mund drückt, eine andere, die mit einer Tasche ihr Gesicht bedeckt und an der Kamera vorbeieilt.
Als er sich wieder dem Frühstück zuwendet, sieht er durch das Küchenfenster, daß draußen die Straßenlaternen schon an sind, den fetten Nebel. Er steht auf, macht „Boah“, obwohl es nicht so weh getan hat wie erwartet, stellt den Fernseher aus.
Auf dem Weg ins Atelier, wo er den AB abhören wird, hat er schon die Stimme von Nero im Ohr, weiß so ziemlich genau, was der sagen wird, das superschnell gesprochene „HalloCostinhieristNero“ und „EsstelltsichjetztdieFrage“ und „Rufmichdochsobaldwiemöglichzurück.“
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Er schaltet das Licht im Bad ein und läßt das Wasser in der Dusche warm laufen. Während er sich dann einseift, wäscht, Shampoo in die Haare reibt, haben sich so ein paar Fragen aufgedrängt, er hat ja jetzt ganz vergessen, nachzusehen, ob sie noch geschlafen hat, da neben ihm, oder ob sie schon auf ist, und außerdem, wieder mal, zum wiederholten Male — das hat Herr Büttner, der Chemielehrer in Cham immer gesagt, Martin Büttner: wieder mal zum wiederholten Male —, was hat er gestern noch gemacht? er hatte doch diesen Super-lazy-Tag, wo er gleich ganz im Bett geblieben ist, weil Romy ja noch auf Tour war, schlafen, fernsehen, alle Termine absagen, Handy ausschalten, Comics raussuchen, mal wieder alte Snoopy-Dinger durchblättern, es ist ihm dann ziemlich schnell eingefallen: Super-lazy-Tag war vorgestern, gestern waren diese Studio-Aufnahmen mit Tau, die sich so superlang in die Nacht hingezogen haben: Das war gestern.
Beim Abtrocknen hat er wieder diesen krassen Schmerz im rechten Knie, wenn er diese Bewegung macht, der Schmerz kommt automatisch, er hatte für Momente tatsächlich irgendwie ganz vergessen, daß diese Bewegung den Schmerz auslöst, er versucht, nicht darauf zu achten, und auf seinen Scheißkörper auch nicht, das kaputte Knie. . Knie, da gab es doch bei den Fraggles diesen Satz, ganz am Anfang, als die Fraggles durch die Gänge ihrer Höhle laufen und dieses Lied singen, „Fick dich doch ins Knie“, „ie“ langgezogen, kann das sein? In einer Kindersendung? Oder hat er seine ganze Kindheit über nicht genau aufgepaßt, was dieser Fraggle da eigentlich singt. . vor dem beschlagenen Spiegel, in dem er sich selber nur als dunklen Fleck sieht, jetzt, kämmt er sich die Haare zurück, er kann seinen Herzschlag spüren, er ist ein bißchen aufgeregt, fast schon lampenfiebermäßig, obwohl ja auch niemand weiß, was Romy auf ihrer Tour so treibt, es gibt ja diese Geschichten, also, Costin, kein schlechtes Gewissen, bitte. (War das gerade der innere Costin?)
Er öffnet die Badezimmertür. Von dem Licht der Straßenlaternen draußen, das durch das nicht vollkommen heruntergelassene Rollo dringt, ist das Innere des Schlafzimmers in ein fahles Licht getaucht. Er versucht, den Schmerz in seinem rechten Knie zu ignorieren und jetzt möglichst lässig mit dem umgebundenen Handtuch zum Bett zu gehen. Weil sich seine Aufregung noch immer nicht legen will, hat er, als er ins Bett schlüpft und unter der Decke Taus warmen nackten Körper spürt, die Augen geschlossen und zu einem altbewährten Mittel gegriffen. .
Lucy (in Reiterstellung auf Charlie Brown): „Oh.“
Charlie Brown (Gedankenblase): „Das Scheiß-Knie! Sie sitzt genau drauf. Wann ist das bloß endlich vorbei?“
Charlie Brown: „Ah.“
Lucy: „Oh.“
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Es ist dieser UHU-Geruch, der von der weißen Farbe an den frisch gestrichenen Wänden kommt, eigentlich nicht unangenehm, nur ungewohnt. Überall ist der noch, in allen Räumen des neuen BIBO-HQs. Überall auch noch Kabel mit abgeklebten Enden, die statt Lampen aus der Decke schauen, die neuen weißen Metallschränke statt der alten aus dunklem Holz, die alten Aktenordner, CDs und Megadiscs sind schon eingeordnet, der neue Teppich, grün statt grau. Irgendwie weiß Costin, daß, wenn er diesen Geruch einmal später, wo auch immer, zufällig, in der Nase hat, daß er dann an den Umzug des Labels zurückdenken wird und an diese ganze etwas unangenehme Situation momentan, die sich aber hoffentlich bis dahin gelegt haben wird, das legt sich immer alles, das ist immer so.
Ihm ist das ja in letzter Zeit öfter aufgefallen, daß das wirklich so ist, daß so Kleinigkeiten, ein Geruch, ein Lied oder Gegenstand, plötzlich eine Erinnerung in einem auslösen, er fand das früher ziemlich lächerlich, voll Klischee, so Zeilen wie „I smell the fields, and I think of childhood“, aber man kommt dem eben nicht aus, das kommt einfach so, daß man zum Beispiel was sieht, und schon ist man für ein paar Sekunden weg.
Das heißt also, wenn er und Romy mal umziehen, in zwei, drei Jahren vielleicht, dann wird er in seiner neuen Wohnung stehen, UHU schnüffeln und plötzlich an das hier denken und wie sich alles in Wohlgefallen aufgelöst hat, BIBO die kleine Krise überwunden hat und wieder auf der Erfolgsspur ist.