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Jennifer steckt den Kopf durch den Türspalt in sein neues Büro und sagt: „Schaust du dann mal wegen dem Keller?“ Tja, Jennifer: Jetzt noch für Costin — natürlich sagt er das nicht laut — eine Zicke, wird dann, wenn besagte Erinnerung dank UHU stattfinden wird, eine nette Kollegin sein, vielleicht auch eine Freundin. Er hinkt ihr durch die Büroräume ins Treppenhaus hinterher, hält sich, als sie jetzt in den Keller steigen, bei jedem Schritt am Geländer fest, das noch in Plastik eingeschlagen ist, Lift gibts zwar schon, die Türen sind aber noch zugeklebt. Costin muß sich immer wieder sagen: Daß er, nachdem Julian von Tough Trade abgeworben wurde, Georgi (mit Timmi) rausgeworfen und das gesamte Team mit Jennifer und Jo und Vaclav im Prager Büro neu besetzt hat, also quasi kahlschlagmäßig, war eine der wenigen konsequenten und professionellen Entscheidungen in seinem Leben, du bist erwachsen geworden, Costin, Glückwunsch!

Wenn sich BIBO seinen in all den Jahren mühsam erworbenen Namen als kleines, aber feines Indie-Label, das zum Teil, wie bei Tau oder den KOPs „mit schlafwandlerischem Gespür“ (Zitat Rezensent im BIBO-Porträt der Rex) künftige Trends vorausgeahnt hat, Trends, die so richtig erst ein, zwei Jahre später groß wurden, wenn sich BIBO also diesen Namen erhalten will, dann muß es sich halt, sorry, Georgi (und Timmi!) verändern, flexibel sein, du verstehst. Georgi war halt Georgi. Und ab einem gewissen Punkt kam da nichts mehr Neues. Costin hat das gesehen.

Andererseits: die menschliche Komponente. Julian, Georgi (und Timmi!) und Costin waren eigentlich schon so etwas wie eine kleine Familie. Jennifer, Jo, Vaclav und er müssen sich erst noch einspielen, bevor sie zu einem richtigen Team werden können.

Jennifer zum Beispiel, Jennifer, die jetzt den Lagerraum im Keller aufsperrt und dabei sagt: „So, jetzt schließ ich mal das hier auf, und dann gucken wir mal.“

Costin weiß im Prinzip so alles über sie, die Facts, wo sie vorher war, was sie schon alles gemacht hat, er hat sich schon oft mit ihr, wie mit Jo und Vaclav auch, auf ein Bier oder so getroffen und einfach mal so mit ihr geredet. Sie hat von ihren Wünschen erzählt, ihren Vorstellungen, daß ihre Seele in London liege. Sie ist, wie Jo und Vaclav auch, fachlich top. Jennifer hat Ahnung. Aber: Was sie wirklich denkt und wer sie wirklich ist, das könnte Costin nicht mit Sicherheit sagen. Wenn er etwas erzählt, schaut sie oft skeptisch und angewidert, sagt aber dann: „Da bin ich voll der Meinung“ und: „Hmhm, genau.“

Und Jo. Jo, der so ein Muster-Leben in einem Muster-Penthouse mit einer Muster-Italienerin als Freundin führt. Das kann irgendwie nicht alles sein. Es muß noch einen anderen Jo geben. Wenn Costin da an gemeinsame DVD-Abende bei sich zu Hause mit Julian und Georgi (und Timmi) zurückdenkt, an Julian, der ihn mit tränenerstickter Stimme anrief, als ihn seine Freundin rausschmiß und er für ein paar Wochen bei Costin und Romy wohnte — Costin kannte die Situation ja nur zu gut, er hatte ja selber schon mal da gestanden, wo Julian jetzt stand. Wäre das mit Jennifer, Jo oder Vaclav, der nur brüchig Englisch und Französisch spricht, vorstellbar?

Nö. Jo ist nicht Julian. Jennifer ist nicht Georgi.

Jennifer schaltet das Licht an. Die Regale rechts und links, die nur einen schmalen Gang bis zum Ende des Raums lassen, reichen bis zur Decke. In den Regalen liegen links Stapel mit T-Shirts und Pullis, rechts Posterrollen. Jennifer sagt: „Willkommen im Reich des Merchandise.“ Links Tau, Das Kapital und so weiter, rechts die KOPs. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und holt aus einer Kiste in einem Regal ziemlich weit oben so eine Art Haarreif mit zwei langen hin- und herschwingenden Fühlern.

Sie sagt: „Dieser Artikel wurde bei der letzten Tour der Gruppe Lolek und Bolek verkauft. Man setzt sich den Reif während des Konzerts auf, und die Gruppe schaut von der Bühne auf ein Meer von Fühlern, die im Dunkeln blau leuchten.“

51

Vor ihnen haben Wylie und Uschi doch erstaunlich synchron den rechten Arm in die Höhe gerissen und mit dem linken Fuß einen Kreis beschrieben. Seema neben ihm hat nur so alibimäßig irgendwie Bewegungen mit dem rechten Bein und beiden Armen, Marke: Eigentlich bin ich mit meinem Kopf gerade ganz woanders, gemacht. Weil er sich nicht mehr so genau an die Choreo von A Day in my Life erinnern kann, hat er, auf die Krücke gestützt, abgewartet, was Wylie und Uschi tun. Die beiden haben das wahrscheinlich selber nicht so intus, sie schauen immerzu geradeaus, auf die Plasma-Wand am anderen Ende des Wohnzimmers, wo jetzt gerade das PingPongs-Video zum Song läuft, so daß sie sehen können, wie sie sich damals bewegt haben und was sie jetzt machen müssen. Costin nimmt das Video zum Glück nur verschwommen wahr, weil er seine Brille abgenommen hat; soweit er sich erinnern kann, trugen sie damals Beatles-Kostüme.

Vor ein, zwei Monaten, ja, im März ist es gewesen, es hatte noch einmal ziemlich geschneit, da hatte Costin einen Anruf im Label bekommen, und Wylie war in der Leitung gewesen. Costin hatte zuerst nicht geschnallt, daß der Wylie, der da anrief, der Wylie war, also der PingPongs-Wylie, und er hatte für ein paar Sekunden, wie immer, wenn ihn sein Gedächtnis im Stich läßt, so getan, als kenne er ihn (höflich: „Ja, ach hallo, grüß dich!“), bis er überhaupt realisierte, was hier eigentlich los war.

Ganz früher, also direkt nach dem endgültigen Break-up der PingPongs, hatte Wylie ihn noch in unregelmäßigen Abständen auf dem Handy angerufen und gefragt, was so am Start sei, er hatte diesen Ausdruck gebraucht, „am Start sein“, wie es ihm so gehe, was er so mache. Costin hatte immer das Gefühl gehabt, Wylie, wirklich nicht sein bester Freund während der PingPongs-Zeit, rufe nur an, um ihm, Number One, zu erzählen, wie toll es in seiner neuen Band sei, und, Number Two, um rauszufinden, ob Costin Erfolg habe, die Competition-Schiene eben. Aber dann hatte Wylie auf einmal von seinen Problemen in der neuen Band und auch privat zu labern begonnen, immer wieder gesagt, er hoffe wirklich, es gehe Costin gut, das, was da bei den PingPongs an Zwist gewesen sei, sei ja nicht mehr aktuell, jeder verändere sich. Schließlich hatte Wylie auch dann noch monatelang angerufen, als Costin schon längst nicht mehr seine Anrufe — Wylies Nummer hatte er mit dem Klingelton I’m a Loser, Baby belegt — entgegennahm. Wylie schien das alles damals, also das „Wie geht’s dir“ und so weiter, ernst gemeint zu haben. Costin hatte ihm anscheinend wirklich was bedeutet.

Wylie hatte bei seinem Anruf im Label sofort und ohne große Einleitung nach dem Hallo gesagt, er habe das PingPongs-Archiv wieder mal geordnet — welches PingPongs-Archiv, bitte? — , hier in Recklinghausen, er wohne in Recklinghausen, ja, und da habe er gedacht, weil er wisse ja, daß Costin dieses Label habe, ja, und da habe er also gedacht, er rufe ihn mal an, ob man sich nicht mal, also, so treffen wolle, Uschi und Seema seien auch dabei, die wollen auch, sich treffen also, er habe mit denen telefoniert, was Costin darüber denke, während sich Costin die ganze Zeit über im Büro umgesehen hatte — Schrank, Fenster, Tisch, Schrank, Fenster — und überlegt hatte, daß das hier gerade nicht sein dürfe, daß er das jetzt gerade nicht haben könne, daß ihn das hier total überfordere, diese Stimme aus der Vergangenheit, voll Horrorfilm, das, und wie er das Ganze hier jetzt so schnell wie möglich, ohne dabei als Arschloch rüberzukommen, beenden könne. Costin hatte gesagt, daß sie das unbedingt tun sollten, sich treffen, daß er aber jetzt gerade wegmüsse, ob er Wylie zurückrufen könne, Wylie hatte sich vielmals entschuldigt und hatte sich sofort — fast ehrfürchtig, wie Costin schien — verabschiedet, Costin hatte an Wylies Stimme gemerkt, daß er, Wylie, ziemlich viel Respekt vor ihm, Costin, hatte, ob noch von den PingPongs-Zeiten her oder wegen dem Label, whatever, der Bildschirm am Telefon war schwarz geblieben, Wylie schien kein Bildtelefon zu besitzen, die Nummer war auf dem jetzt wieder grauen Display verschwunden.