Damals hatte Costin, nach langer Zeit wieder, diesen Traum gehabt. An sich nichts Besonderes, alles so wie früher eben: Er mit Wylie, Uschi und Seema auf der Bühne, tanzend, singend, Romy hatte ihn wach gerüttelt, weil er wohl mit den Armen um sich geschlagen hatte, ja, und als er da so dalag, da war er nicht etwa schweißgebadet gewesen und hatte Magenkrämpfe gehabt. Er war richtig glücklich gewesen, jau, da so vorhin auf der Bühne, also im Traum, mit den anderen, das hatte ihm einen richtigen Kick gegeben, und irgendwie hatte er da beschlossen, daß so ein Wiedersehen doch nicht so eine schlechte Idee war. Costin hatte Jo am nächsten Tag gebeten, die Nummer eines gewissen Wylie Anderson in Recklinghausen herauszufinden. Als Wylie abhob, hatte Costin gesagt: „So, grüß dich, jetzt habe ich wieder etwas Luft.“
Für einen Moment war das Wohnzimmer vom Applaus aus der Plasma-Wand gefüllt, Wylie und Uschi vor und Seema neben ihm haben, während sie zum Sofa und dem Sessel gegangen sind, ziemlich geschnauft, etwas gestöhnt. Wylie hat sich nach vorne gebeugt, die Hände auf seine Schenkel gestützt und „Oh, Oh, Oh“ gemacht. Auf der Rückseite seines roten T-Shirts hat sich ein ganz enormer Schweißfleck gebildet.
Wylie trägt eines dieser T-Shirts von einer dieser Gruppen, die momentan überall, also quasi: global, seit dem Start des ersten bemannten Raumflugs zum Mars ins Leben gerufen worden sind. Da trifft man sich so regelmäßig, schaut die tägliche Live-Übertragung aus der Enterprise, das Raumschiff heißt tatsächlich Enterprise, im eigens für die nächsten 22 Monate auf Sendung gegangenen 24-hrs-Mars-Channel an, und wenn man Glück hat, kann man — ein exklusives Privileg für die Mitglieder in einem dieser Clubs — mal mit einem Besatzungsmitglied, zum Beispiel der einzigen Deutschen an Bord, Anneliese Fritz, eine E-Mail austauschen oder über Funk reden. Wylies Gruppe heißt Wir zählen! Das steht auch vorne in Gelb auf seinem von seiner Wampe gespannten T-Shirt. Wir zählen! heißt, das hat Costin mal in einer Reportage gesehen, daß die Club-Mitglieder am Anfang und Ende jedes Treffens für keine Ahnung, wie lange, die aktuell verbleibende Zeit bis zur Marslandung laut mitzählen, also rückwärts, countdownmäßig, so quasi als Ritual. Nächsten Juli wird die Enterprise dann tatsächlich auf dem Mars landen, der Besatzung werden vielleicht doch noch nicht, wie inzwischen in Expertenrunden diskutiert, alle Zähne ausgefallen sein, und der Kapitän, so ein Chinese, wird beim Betreten der Marsoberfläche irgendeinen Satz sagen — Moment. . macht der das dann auf chinesisch? Keine Ahnung. . oh, Gott.
An sich hat ja diese Uschi, die da jetzt auf dem Sofa sitzt, keinerlei Ähnlichkeit mit der Uschi, die Costin kannte beziehungsweise kennt.
Das soll Bohnenstangen-Uschi sein? Wie Wylie ist sie richtig fett. Beide haben etwas von diesen Typen aus dieser US-Sitcom in den 80ern oder 90ern, Roseanne. Aber wenn sie jetzt lacht, ihren Kopf zurückwirft, dann ist das eindeutig Uschi, so wie früher, vor 30 Jahren, das Uschi-Lachen, Costin hatte das damals für sich Uschi-Lachen genannt, und später, wenn er jemanden so lachen sah, gedacht, daß deroder diejenige das Uschi-Lachen habe.
Als sie alle vorhin hier saßen, Gebäck knabberten und Wylie das erste Video der von ihm eigens für den Abend zusammengeschnittenen Doku, Die PingPongs. Von Wylie Anderson, einlegte, hatte Uschi erzählt, daß sie schon lange nicht mehr arbeite, seit sie verheiratet sei und drei Kinder habe, Söhne, zwei hatte ihr Mann, ein Banker, schon mit in die Ehe gebracht. Wylie hatte erzählt, er leite Jugendgruppen in Recklinghausen innerhalb eines Streetwork-Programms. Das mache Spaß. Seema war sehr still gewesen und schien alles, was so früher für sie charakteristisch gewesen war, den Seema-Blick (Kopf nach unten, hochschauen), den Seema-Kommentar (immer bitchend), den Seema-auf-die-Schulter-Klopfer, abgelegt zu haben; sie habe das Fach gewechselt, sie arbeite in der Immobilien-Branche, hatte sie mit spitzen Lippen gesagt. Costin kennt diese Art von Image-Wandel, er hat ihn oft genug bei anderen aus der Branche gesehen und sieht jetzt auch ganz klar, daß Seema, sollte es später am Abend ausgelassener zugehen, als erste am lautesten lachen, die derbsten Witze machen und ihr ganzes steifes Ich-bin-so-professionell-Gehabe in Null Komma nix vergessen haben wird, Marke: unterdrückte personality.
Im Video sind die PingPongs im Tourbus gesessen. Es ist die zweite Tour gewesen, mit den ersten krassen Break-up-Erscheinungen. Seema und Costin (Wohnzimmer) haben die Sessel umgedreht, um auf den Bildschirm schauen zu können. Uschi und Wylie (Video) sitzen sich in Kojen gegenüber. Costin führt wohl die Kamera, er weiß es nicht mehr. Uschi und Wylie (Video) keifen sich an, über irgendeinen Pipifax. Uschi auf dem Sofa hat die Uschi im Video beziehungsweise im Tourbus nachgemacht, Wylie ist sofort mit eingestiegen, voll das eingespielte Team die beiden, statt irgendwas zu sagen, machen sie „bäbäbäbäbä“ (schnell), lachen.
Uschi (rufend): „Weißt du noch? Der Umpf!“
Wylie stellt die Plasma-Wand auf lautlos. Seema ist aufgestanden — na, siehste, Costin, haste es doch gewußt —, hat Umpf! — like in die Hände geklatscht, steht breitbeinig da, (schreiend): „Was macht ihr denn hier für ne Scheiße!? Hey, ich glaubs nicht! Ihr seid das letzte! Loser! Loser seid ihr!! Hey, ich brauch Luft!!“
Costin hat sich an seiner Krücke hochgezogen, hat ein Umpf! — face gemacht (Unterkiefer vor, Augen groß): „Liegestütz!! 20!!“
Uschi (rufend): „Wie wir in Braunschweig auf der Bühne standen und ich die Choreo vergessen hatte, das Playback ausgefallen ist und in der ersten Reihe der Typ stand, der die ganze Zeit ‚Ausziehen, Ausziehen‘ gerufen hat!“
Costin kann sich gerade nicht erinnern, daß das, was Uschi da so beschreibt, mal passiert ist. . Braunschweig? Playback ausgefallen? Das spielt aber keine Rolle, er lacht, sagt: „Genau“, Seema und Wylie lachen, sagen: „Ja, kraß.“
Es spielt aber eine Rolle, daß der Abend jetzt gerade so, ja, schön ist, dieses Together-Gefühl, das da gerade ist, daß sich das, wenigstens solange sie hier sitzen, hält, also, daß das hier gerade nicht aufhört, muß es natürlich, klar, aber trotzdem, genau das wünscht sich Costin in diesem Moment.
Romy ist im Wohnzimmer gestanden. Auf dem Bildschirm winken Seema und Uschi in die Kamera, sie tragen rote Nasen, im Hintergrund erklingt das PingPongs-Nirvana-Cover Smells like Teen Spirit, Romy ruft: „Hallo, Tach allerseits, Costin hat schon gesagt, daß ihr kommt, hallo, du wirst der Wylie, du die Uschi und du die Seema sein, hallo, Romy. Ja, entschuldigt, daß ich so spät dran bin, ich habe diese Band, Erich, und wir nehmen gerade unser neues Album auf, und das ist diesmal alles echt schwierig, total zoffig und so, Costin hat gesagt, bei euch war das immer total harmonisch, da beneide ich euch echt drum, daß das bei euch immer so gut ging.“
Romy weiß genau, daß die Aufnahmen bei den PingPongs immer chaotisch und total unprofessionell verliefen, Zikkenalarm inklusive, sie hatte ja erst gestern mit Costin darüber, eher zufällig, gesprochen. Wenn sie jetzt so was sagt, dann ist das nicht das erste Mal, daß sie irgendwie Leute provozieren will, was allgemein OK wäre, aber eben bitte nicht jetzt.