Immer wenn er in Salzburg bei Wendy und Therese ist, kriegt Romy die Krise. Sie kann viel über die Wohnung, die Tournee und Erich lästern; die Wohnung, die Tournee und Erich sind dann aber immer nur ein Vorwand dafür, um Luft abzulassen, weil sie sich vernachlässigt fühlt (von Costin) und ein bißchen eifersüchtig ist (auf Therese. Und auf Wendy natürlich. Auf wen von den beiden eigentlich mehr?), irgendwie kann Costin das ja auch nachvollziehen.
Er steht auf, streicht die Mulde aus der Tagesdecke, setzt sich an den Schreibtisch und sagt: „Romy? Ich liebe dich, OK?“
Er nimmt einen Bleistift und malt ein Achteck auf die großformatige Schreibunterlage, an deren unterem Rand ein Jahreskalender abgedruckt ist.
Romy sagt: „Ich liebe dich doch auch.“
Die Kirchenglocken draußen haben die volle Stunde zu schlagen begonnen, eine hat früher eingesetzt als die andere, die eine schlägt in die Pausen der anderen.
Er sagt: „Wart mal kurz“, schließt die Fenster, sagt: „Jetzt bin ich wieder da.“
Romy fragt, wann er heute komme. Er sagt, sein Flug sei um fünf, er müsse noch ins Studio bis zehn, dann komme er, sie werden sich einen schönen Abend machen, er sagt: „Weißt du was, du trägst das einteilige schwarze Kleid, wir machen ein Candlelight-Dinner, ich schäl dich aus dem Kleid, du bist nämlich unwiderstehlich, weißt du das?“, Romy fragt: „Bin ich das?“, das heißt, er müßte jetzt eigentlich weiterreden, in diesem Tonfall, Romys Stimme klingt so, als liege sie gerade irgendwo, im Atelier vielleicht; er geht zum Bücherregal, dieses gerahmte Foto steht da, Wendy, Therese, Albert, die Architektur-Schwarten von Albert daneben, Therese hat sie seit seinem Tod nicht weggeräumt, wenn das nicht Liebe ist, Costin sagt: „Romy, ich muß zur Jause, die warten, ich lieb dich, ja?“ Albert hat einen Schnauzer, er lacht, es ist ein glückliches Lachen, Albert hat ein glückliches Lachen auf dem Foto.
Als Costin das Headset wieder einsteckt und zur Tür geht, hat er gesehen, daß auf der Tapete neben der Tür lange, dünne, geschwungene hellgrüne Blätter gemalt sind, er sieht sich um, tatsächlich sind die da überall auf der Tapete, im ganzen Schlafzimmer, da neben dem Fenster, das, was er vorhin zur Seite gestellt hat, damit er das Fenster schließen kann, das war so eine Staffelei, Alberts Architektur-Staffelei, die lehnt da noch, in der Ecke steht so ein Fitneß-Rad, das fällt ihm alles erst jetzt auf, er hat es vorhin nicht gesehen. Er öffnet die Tür.
Im Flur ist einen Moment lang etwas um seine Beine gestrichen, er hat auf den Boden geschaut, es ist Wendys schwarze Katze gewesen, die Katze heißt Scratchy.
Therese deckt gerade den Tisch. Sie fragt, ob alles OK sei. Sie sagt, es gebe Linzer Torte. Sie habe das Rezept von einer Kollegin in der Schule, deren Vater Konditor gewesen sei, es sei ein ganz besonderes Rezept, die Kollegin habe einen schweren Stand, Therese sei ihre einzige Freundin, „so, jetzt lege ich die Teller hin“, sagt Therese, „neue Gläser brauchen wir eigentlich nicht, ach, was habe ich denn da auf dem Ärmel, ich habe mich wohl irgendwie angespritzt vorhin, wie ich Schlagsahne geschlagen habe.“
Costin ist sich sicher, daß Therese all das auch sagen würde, wenn er nicht da wäre, daß sie so auch weiterredet, wenn sie allein ist, nur für sich, ein unaufhörlicher Schwafelstrom, der all ihre Tätigkeiten begleitet, so, jetzt steh ich auf, so, jetzt geh ich kacken, so, jetzt geh ich die Straße entlang. Sie hat ihm auch schon über ihre Schüler, ihren letzten Urlaub in Nizza, ihre Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft, die unhöfliche Bedienung an der Fleischtheke beim BILLA nebenan, ihre Liebe zu Albert und die schwere Zeit nach seinem Tod erzählt; währenddessen hat sie geweint, und Costin hat sie zuerst nicht in den Arm nehmen wollen, dann aber doch in den Arm genommen.
Therese muß Costin nicht alles erzählen. Es ist ihre Sache. Wenn sie es will. Costin hört halt zu, mittlerweile fragt er auch ab und zu nach, so pro forma. Von sich beziehungsweise von sich und Romy erzählt er ihr aber nur wenig, wenn Therese ihn fragen würde, würde er ihr ausweichen; wenn Wendy ihn fragen würde, was sie bis jetzt noch nicht getan hat, würde er ihr alles erzählen.
Costin: „Kommt Wendy auch?“
Therese: „Die ist noch in ihrem Zimmer. Holst du sie?“
Therese sagt, daß Wendy noch nicht genau wisse, was sie eigentlich wolle, sie wolle Medizin studieren, gut, Therese glaubt aber nicht, daß sie, Wendy, es auch tatsächlich tue, Wendy habe diesen Teenager-Traum, Gutes zu tun, die Welt zu ändern et cetera, sie schreibe viel Tagebuch, auch so Gedichte, glaube sie, Therese, ihre beste Freundin heiße Esther, einen Freund habe sie noch nicht gehabt, sie hänge noch sehr an ihrem Vater, also Albert, Entschuldigung, und müsse sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß Costin ihr wirklicher, also, Vater sei, sie möge ihn, Costin, eigentlich, Therese wisse das — woher, das sagt sie nicht —, Wendy sei ein sensibles Mädchen, ein bißchen altklug manchmal, ihr Lieblingsgericht sei Broccoli-Suppe.
Auf Costins Frage hin, was er nur tun solle, hat Therese seine Hand ergriffen, was OK war in diesem Moment, es hat ihn getröstet, weil er schon irgendwie aufgewühlt ist, in dieser neuen Rolle, als Vater, und er das Gefühl hat, er verhalte sich falsch; Therese hat also seine Hand ergriffen, ihn verständnisvoll angeschaut und gesagt, er solle doch nur ein wenig Geduld haben, nur Geduld, das sei jetzt alles schwer, aber das werde schon, sie wisse das.
Er klopft an Wendys Tür. Von drinnen kommt Wendys Stimme: „Herein.“
Wendy sitzt am Computer und starrt auf ihren Bildschirm und tippt sehr schnell, sie lacht kurz auf, sie chattet wahrscheinlich.
Sie sagt: „Jause, ich weiß, komme gleich.“
Costin geht nicht ins Zimmer, sondern bleibt auf der Türschwelle stehen. Er möchte damit zeigen, daß er sich Wendy nicht aufdrängen will, nicht rumschnüffeln, er hätte es gehaßt, wenn sein Vater das getan hätte. Neben Wendys Megadisc-Player liegt die Megadisc, die er ihr letztes Mal, letzten Monat, mitgebracht hat, das registriert er, über dem Schreibtisch hängt das Poster einer Schauspielerin, die er auch kennt, aus dem Fernsehen, und die ziemlich gut aussieht — aber hängen Mädchen in dem Alter nicht eher Poster von jungen knackigen Männern mit Waschbrettbäuchen auf, er weiß es nicht; er möchte, daß Wendy merkt, daß er sich absichtlich nicht näher umsieht in ihrem Zimmer, aus Respekt, er möchte, daß sie merkt, daß er sie respektiert, er sagt: „OK, ich bin dann wieder im Speisezimmer mit Therese, ja?“ und läßt die Tür offen. Im Flur hört er, daß Wendy den Computer herunterfährt, wie sie aufsteht, sich räuspert.
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Auf der linken Seite des Flugzeugs, das jetzt, beim Start, eine Schieflage eingenommen hat — Costin wird in den Sitz gedrückt —, ist noch einmal die Stadt als ein Gewirr von geschwungenen Linien, sind die Straßen, Plätze aus Licht aufgetaucht, der Berg mit der Festung schwarz vor dem Himmel, der noch erstaunlich hell gewesen ist, tiefblau.
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„Olaf?“
„Paolo?“
„Olaf?“
„Ludwig?“
„Cos-tin!“
„Costin?“
„CO!“
Es besteht kein Zweifeclass="underline" Bei dem abgemagerten Mann mit der schwachen Stimme, der, Kissen im Rücken, aufrecht im Bett sitzt, die Maske eines Beatmungsgeräts in der linken Hand hält und lediglich die vertrauten braunen Augen besitzt, bei diesem Mann muß es sich um Olaf — jetzt Ex-„Big Daddy“ — Erdrich handeln. Die Schwester, der Costin gesagt hat, er wolle zu Herrn Erdrich, hat ihn durch den Flur des zweiten Stocks zu dieser Tür geführt.
Einzelne weiße Härchen stehen, wohl übriggeblieben von der schlechten Rasur, von Olafs Gesicht und Hals ab. Costin reicht Olaf die Hand. Olaf hat einen Moment lang, als er ebenfalls den Arm gehoben hat und sich etwas vorbeugen mußte, um Costins Hand zu ergreifen, das Gesicht vor Schmerz verzerrt; ansonsten lächelt er, hat die ausgedünnten Augenbrauen ein klein wenig nach oben gezogen.