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Wendy, in ihrem schwarzen Vintage-1970er-Parka — das Mädel hat einen Vintage-Fimmel, alle ihre Klamotten sind entweder Original 20. Jahrhundert oder auf alt gemacht —, hat sich jetzt bei Costin eingehängt, sie stützt ihn und hilft ihm über die Pfützen, die sich nach dem Frühlingsgewitter am Vormittag auf dem Feldweg gebildet haben. Früher hatte ihm Wendy null geholfen, hatte sogar mit den Händen in den Hosentaschen daneben gestanden und untätig zugesehen, wie Costin einen auf Opa gemacht hatte und bei den kleinen Steigungen des Wegs oder bei den Stiegen im Haus extra auffallend langsamer wurde, schwankte, stöhnte (leise).

Und Wendy labert. Sie habe neulich Sydney Story im Kino gesehen, das sei ein ganz toller Film, Costin habe wahrscheinlich davon gehört, „Ja“, sagt Costin (hat er aber in Wirklichkeit nicht), alternder Schauspieler verliebt sich in junges gelangweiltes Mädchen, beide aus Berlin, et cetera, sie und Esther wollen jetzt unbedingt auch mal nach Sydney, Costin sagt, Sydney sei schon schön, sie wisse ja, er habe da mal ein paar Jahre down under gelebt. „Echt“, sagt Wendy und schaut ihn an, begeistert, „Sydney? das mußt du mir mal erzählen“, sie sagt: „Ich habe aber zur Zeit voll die Angst, meinst du, da wird irgendwas aus dieser Taiwan-Krise?“ — China läßt seit ein paar Tagen angeblich mit Atomraketen bestückte Kriegsschiffe vor Taiwan kreuzen, man weiß nicht, wie die USA reagieren werden — „Meinst du, ich kann mal mit ins Studio zu euch“, fragt Wendy, sie sagt: „Die Uni ist ziemlich gut, endlich mal ne Herausforderung, ich brauch halt mehr Disziplin, ich seh das schon, es gibt so viele tolle Bücher, besonders alles, was sich so mit gender auseinandersetzt, Papa“ — hier ist es tatsächlich passiert, it finally happened: Wendy hat heute, am 18. April um 16:20 Uhr (gefühlte Zeit), Costin zum ersten Mal „Papa“ genannt —, „Esther ist echt meine beste Freundin, ich muß sie dir mal vorstellen, Mensch, ich laber schon wieder soviel, aber ich bin einfach so happy, weil das mit Oxford geklappt hat, ja, und weil, weil wir, also du und ich, uns jetzt endlich angefreundet haben, ich habe ja schon lange versucht, da irgendwie einen Draht zu dir zu bekommen, aber du warst immer so irgendwie, aber ist ja auch egal, weißt du, also, oder?“

Costin hat nichts gesagt, sondern nur den Arm um ihre Schulter gelegt. Er weiß nicht, was er da jetzt am besten sagt. Sie sind an dieser Stelle mit der Bank und dem schönen Ausblick auf die Stadt mit dem Mönchsberg im Hintergrund stehengeblieben. Wie immer, wenn sie an dieser Stelle stehen, muß Costin an diesen alten Film denken, den Ana so gern hatte und den er, noch wie er klein war, ja, man muß sagen: gezwungen war anzusehen, dieses furchtbare Musical, eigentlich nach rein geschmacklichen Kriterien ein Horrorfilm, über diese österreichische Familie, die im Dritten Reich in die USA auswandert, The Sound of Music, genau, so hieß der, da stand diese schwarzhaarige US-Schauspielerin, die eine österreichische Mami spielte — war es Audrey Hepburn? — , mit ihrer Riesenfamilie — wie viele Kinder hatte die denn, bitte? 20? —, da standen die also im Film auch mal an einer Stelle an der Salzach, vielleicht war das ja auch hier gedreht worden, er müßte sich mal schlau machen, diese Aussicht, die man dann da im Film gesehen hatte, die hatte tatsächlich ziemlich viel Ähnlichkeit mit der, die Wendy und er jetzt gerade vor sich haben, vielleicht auch deshalb, weil gerade das Licht irgendwo so hell ist und dadurch alle Farben stärker wirken, so frisch, wie das eben so ist nach einem Unwetter oder eben manchmal im Film, in so alten Technicolor-Teilen, aber vielleicht ist er auch nur gerade so glücklich, hier mit Wendy, und er bildet sich das alles bloß ein.

58

Da ist ein großer hellblauer Fleck und ein etwas kleinerer bunter, links und rechts von seinem Bett. Von seinem Bett? Moment. . warum liegt er denn in diesem Bett hier? Er ist zusammengeklappt. Richtig. In der Hotellobby ist er gerannt und hingefallen, nein, Moment, das war wann anders, er konnte sich nicht mehr bewegen, und Romy hat ihn ins Krankenhaus gefahren. Er ist im Krankenhaus. Ja. Ein Arzt hatte doch hier vor ein paar Wochen, zwei, drei, höchstens drei, gestanden, an seinem Bett, war das nicht dasselbe Zimmer gewesen? irgendwas von Verdacht auf Thrombose hatte der gesagt, von einer akuten Situation. Der Termin für eine Operation war der Donnerstag gewesen, ja, sie hatten ihn operiert, und er hatte diese Angst gehabt, daß sie ihm sein Bein abnehmen, daß er sein rechtes Bein verliert, obwohl die Schmerzen kaum mehr auszuhalten waren, davor hatte er Angst gehabt, daß er nach der Narkose aufwacht, und sein Bein ist nicht mehr da, sie hatten sein Bein drangelassen. Ja. Er wird jetzt gleich noch mal nachsehen. Ob es da ist. Es hatte zu Hause im Apartment Megastreß gegeben. Mit Romy. Richtig. Als die Rede davon war, daß entweder sie ihn pflegt oder daß jetzt eine Pflegerin kommt. Romy war total hysterisch geworden. Sie hatte zwar vor der Operation gesagt, sie kümmere sich zu Hause um ihn, aber nach der Operation war es losgegangen, das kann ich nicht, das ist zuviel, wer bin ich denn. Genau. Er müßte noch mal dringend mit Julian reden. Nein. Mit Jo. Wo ist Jo? Er möchte sich bewegen. Er kann sich nicht bewegen. Warum kann er sich nicht bewegen? Es ist ja eigentlich alles geklärt. Daß das Label nicht an einen Major verkauft wird. Daß Jo und Jennifer es weiterführen. Das ist doch alles besprochen worden. Bevor er hierherkam. Haben sie das alles besprochen? Er glaubt sich da an eine letzte Sitzung bei ihm zu Hause zu erinnern, im Wohnzimmer, sie hatten Pfefferminztee mit Rum getrunken. Ja. Als es ihm schon so schlechtgegangen war, hatten sie sich zusammengesetzt und einen Plan gemacht, was wenn und so weiter. Jo und Jennifer könnten verkaufen. Sie haben die Vollmacht. Sie könnten. Er kneift die Augen zusammen. Er versucht, den hellblauen und den bunten Fleck, links und rechts von seinem Bett, zu fixieren.

59

Während er vor der Haustür auf Romy wartet, die noch den Briefkasten am Gartenzaun ausleert, hat er Stretching-Übungen gemacht. Er bekommt nach dem gemeinsamen morgendlichen Joggen, hier, zwischen Tutzing und Starnberg am See entlang, ab und zu einen Krampf im Oberschenkel. Sein Orthopäde hat ihm da ganz gute Übungen gezeigt. Wenn wie jetzt der Wind vom See zu ihrem Bungalow herüberweht, kann man sich schnell erkälten, so verschwitzt, wie er jetzt da steht.

„Kommst du dann, Schatz?“ ruft er Romy zu.

Bevor sie die Haustür aufsperrt, hat Romy ihm einen Kuß auf die Wange gegeben. Ihr Gesicht ist ganz kalt gewesen. Im Flur ist ihnen Lily um die Beine gestrichen. Er hebt sie am Nacken in die Höhe, hält sie wie ein Baby und sagt: „Na, meine Schöne, hast du mich vermißt, hast du Papa vermißt?“

Romy kleben die Haare in der Stirn. Sie öffnet ihre Trainingsjacke, auf ihrem orangen T-Shirt steht Wir zählen! — warum steht da Wir zählen!? —, ihre Brüste zeichnen sich darunter ab.

Dieses Bild. Wie Romy so da steht. Irgendwie freut er sich, jetzt endlich ein ganz normales Leben führen zu können, doch noch verheiratet zu sein, wer hätte das gedacht? vorbei der ganze Streß mit dem Label et cetera.

Romy lächelt ihm zu. Er liebt Romy. Romy liebt ihn.