60
Es ist die Wohnung, in der er zusammen mit Mama in Bukarest gewohnt hat. Er zeigt Wendy die Küche. Wendy hat sich bei ihm eingehängt. Wie damals, bei ihrem letzten gemeinsamen Spaziergang, kurz bevor sie nach Oxford gegangen ist. Nichts hat sich verändert. Der nigerianische Flickenteppich ist noch da, der Tisch mit den abgeschlagenen Beinen, die Tageszeitungen darauf.
Er sagt: „Also, hier habe ich so ungefähr ein halbes Jahr zusammen mit meiner Mutter gewohnt.“
Wendy hört aufmerksam zu. Sie hat Interesse. Er geht zusammen mit Wendy in Regensburg von der Tiefgarage zum Haus von Frau Mayer.
Er sagt: „Frau Mayer ist, wie ich ein Teenager war, meine Gesangslehrerin gewesen.“
Wendy fragt: „Du hast Gesangsunterricht gehabt als Teenager?“
Er sagt: „Ja.“
Wendy sagt: „Toll.“
Sie stehen am Kai in Cairns. Das Meer ist ruhig. Es ist angenehm warm.
Wendy sagt: „Danke für die Reise und die Tage in Sydney. Das war total schön.“
Er klingelt an der Haustür. Wylie öffnet. Er stellt Wylie Wendy vor. „Das ist meine Tochter. Wendy. Sie studiert in Oxford.“
Seema und Uschi warten schon im Wohnzimmer. Sie werden sich zusammen die Mars-Landung ansehen. Wendy hat gesagt, daß sie gerne mitkommen würde. Er klingelt an der Haustür des Hauses, in dem sie in Cham zuletzt gewohnt haben. Eine ältere Frau öffnet.
Sie sagt: „Ich erkenne Sie. Sie sind Costin Wallner. Der mit der Plattenfirma.“
Er sagt: „Ja. Ich bin hier mit meiner Tochter. Sie hat mich gebeten, daß ich ihr einmal zeige, wo ich so herkomme. Sie interessiert sich für mein Leben.“
Die ältere Frau sagt: „Na, Sie haben aber eine tolle Tochter. Und gut sieht sie auch aus. Na, kommen Sie mal rein.“
Sein ehemaliges Kinderzimmer im Keller hat sich eigentlich gar nicht verändert. Da steht noch das Christopher-Bett, der Schrank mit den Comic-Stapeln.
Costin sagt: „Ja. Also richtig lange gewohnt habe ich hier eigentlich nicht, aber im ersten Haus in Cham hat es ungefähr genauso ausgesehen. Ja. Das hier ist mein Zimmer gewesen.“
61
Der linke hellblaue Fleck, der jetzt langsam an Konturen gewinnt, das muß Jo sein. Er spricht wie Jo. Jo ist treu. Der Fleck muß Jo sein. Er hat gerade „Costin“ gesagt. „Es ist ja alles gut“ oder „alles OK“ oder so. Das Summen ist etwas schwächer geworden. Dafür ist das Piepen jetzt wieder zu hören. Dieses hohe C. Regelmäßig. Der bunte Fleck rechts hat ungefähr Wendys Statur. Es wird Wendy sein. Gestern ist sie doch noch gekommen. Ja. Gestern oder vorgestern hat Wendy plötzlich an seinem Bett gestanden und gesagt, sie sei jetzt da. Sie bleibe jetzt. Oder es ist Romy. Nein. Romy gibt es nicht mehr. Richtig. Romy ist doch dann bei ihm ausgezogen, weil sie nicht mehr konnte oder weil ihr das alles zuviel wurde. Ja. Wendy. In einem dunkelblauen Kleid mit roten und gelben Blumen. Jetzt kommt wieder der Schmerz. Immer zuerst das Pieksen. Lauter kleine Punkte, die pieksen. Dann das Stechen, jetzt in der Wange, links, in den Fingern auch schon, links, im Arm, den Zehen. Dann rechts. Eigentlich dürfte er doch rechts gar nichts spüren. Nach einem Schlaganfall spürt man doch nichts auf der Seite, die gelähmt ist. Aber der Schmerz ist trotzdem da. Komisch. Nennt man das Phantomschmerz? Er wird diesmal nicht stöhnen. Das nimmt er sich fest vor. Nicht stöhnen. Er stöhnt. Es ist nicht zum Aushalten. Er hat gestöhnt, und Wendy, es muß Wendy sein, hat irgend etwas gerufen, ist näher gekommen, und jemand in Weiß, die Krankenschwester, der Pfleger, irgendwer, ist an sein Bett getreten, sein linkes Bein hat er schon ganz gefühlt, bis zur Hüfte. Sein ganzes linkes Bein. Als ob es brennt, als ob er verbrennt. Die Stimme des Pflegers, es ist ein Pfleger, die Geräusche vom Geräteständer hat er gehört, gleich wird es kommen, das Morphium, es wird sicher kommen, gleich, vielleicht in fünf Sekunden, er hat das doch mal gezählt, gerade dann, wenn man denkt, man hält es nicht mehr aus, eins, zwei, drei, vier, fünf. Dann ist der Schmerz in seinen Fingern weg, verschwindet das Gefühl aus seinem Arm, verschwinden sein Arm, Bein, die Zehenspitzen. Auch die beiden Flecken am Bettende sind geschrumpft, sind jetzt ganz klein. Ihm ist übel geworden, schwindelig, er muß die Augen zumachen. Es summt jetzt wieder in seinen Ohren. Es summt. Kann das? Ist es? Dieses Summen. Das Summen von Flügeln. Den Flügeln eines Riesenmaikäfers, der Dinu heißt, Dinu Mai, und dieses Gefühl zu schweben, zu fliegen. Costin lächelt. Er kennt schon die Aussicht, die sich ihm bieten wird, wenn er jetzt zu blinzeln beginnt, vorsichtig, wegen des Gegenwindes, die Augen aufmacht und sich vorstellt, was ihm wohl der dicke Dinu gleich sagen wird. .
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Wendy macht Geschichte
01
Und dann der hohe Ton, der jetzt schon eine Ewigkeit erklungen ist, der hastig gesprochene Dialog zwischen dem Arzt und der Krankenschwester, seine Frage nach Puls, Atmung, ihre immer gleiche Antwort, nach jedem Elektroschock, durch den Costin, durch den ihr Papa auf dem Bett in die Höhe geworfen wurde, den Rücken durchgestreckt, und dann plötzlich — — Ruhe.
Jemand schaltet die Apparate neben dem Bett ab.
Sie hat die ganze Zeit wie angewurzelt auf der anderen Seite des Zimmers gestanden und auf ihren Papa, sein Gesicht gestarrt, das schüttere schwarzsilberne Haar, die gar nicht blassen, sondern leicht geröteten Wangen, wäre der Schlauch nicht, er sähe so aus, als lebe er noch, würde die Hand heben, gleich was sagen, irgendwas.
Erst als der Arzt den Mundschutz herunterzieht, die Handschuhe abstreift und der Schwester in demselben Tonfall, in dem er vorhin die Fragen an sie gerichtet hatte, diktiert: „Bitte notieren Sie, Zeitpunkt des Todes. .“, da will Wendy zum Bett vor, ruft sie: „Aber der lebt doch noch! Der ist doch gar nicht tot, der ist. .“
Jo hat sie zurückgehalten. Sie hat die Krankenschwester, den Arzt angeschaut, die Blicke sind mitfühlend gewesen, die Schwester sagt: „Kommen Sie, Frau Scharnagel, jetzt setzen wir uns dorthin.“
Wendy will nicht mitfühlend angeblickt werden. Sie will ihrem Vater noch etwas sagen. Sie möchte mit ihm sprechen können. Und sie dreht sich um, sie weint, und drückt sich an Jo und wünscht sich, Jo wäre in diesem Moment Esther, und sie weint in Jos Pulli, der nach Waschmittel riecht, „Aber ich will dem Papa doch noch was, ich möchte doch noch dem Papa.“
02
Und sie geht in ihrem Hotelzimmer zum x-ten Mal auf und ab, inzwischen nimmt sie die Möbel, den Teppich, das Fenster gar nicht mehr wahr, ständig sieht sie nur dieses Bild vor Augen, wie Costin daliegt. . wie sich sein Rücken durchstreckt vom Elektroschock. . dieser Schlauch in seinem Mund. . und sie fühlt dann wieder dasselbe Gemisch aus Angst und Panik, das sie vor ein paar Stunden im Krankenhaus gefühlt hat, sie möchte jetzt nur, daß Esther endlich da ist, Esther hat gesagt, ihr Flieger komme um sieben, es ist doch schon nach sieben, Esther muß doch schon gelandet sein, Esther muß bald kommen, sie muß in spätestens einer Stunde an die Tür klopfen, Wendy denkt, vielleicht wird sie über das hier gerade mal etwas in ihr Notebook schreiben, wie sie hier in einem Hotelzimmer in Berlin-Mitte hin und her läuft, wie sie auf Esther wartet, wie ihr Papa gestorben ist, wie er ausgesehen hat, da, im Krankenhaus, aber später einmal, jetzt kann sie das nicht, jetzt hat sie keine Ruhe.