Steht das nicht so bei Barthes? Genau. In den Aufsätzen, die Wendy in ihren Seminaren in Oxford gelesen hat. Ein Foto erinnert an einen Moment, der da war und jetzt weg ist, aber er war da, real, ebenso wie die Menschen vor der Linse. Das sagt Benjamin, das sagt Barthes, das sagt Sontag.
Wendy fühlt sich auf dem Bett einen Moment befriedigt, weil sie die gelernte Theorie auf das wirkliche Leben anwenden kann. Gleich darauf hat sie so fazitmäßig das Gefühl, daß es immer eine Schicht geben wird — sie nennt das, natürlich total dilettantisch: „das Reale“ —, zu der sie wahrscheinlich nie vordringen wird, das, was im Kopf vom Papa so vorging, was er dachte, was er sah, wenn er die Augen zumachte.
Wenn sie sich morgen hier in der Wohnung alles angeschaut hat oder vielleicht noch später, wenn sie im Sommer aus Oxford zurückkommt, räumt sie hier mal alles um. Sie hat schon eine ziemlich genaue Vorstellung, wie das Wohnzimmer und das Atelier aussehen sollen.
Das kommt dorthin und das dahin.
Wendy öffnet die Augen und schaut an die weiße Zimmerdecke.
07
„Das ist Österreich.“
Klaus ist von ihrem Bett aufgestanden, steht mit dem Teller in der Hand vor ihr, grinsend. Als sie mit dem Messer in die noch dampfenden Salzburger Nockerln einsticht, um ihm ein Stück abzuschneiden, fallen sie in sich zusammen.
Es sind ihre zweiten Salzburger Nockerln. Die ersten hatte sie letzten Sommer mit Therese zu Hause gemacht. Therese hatte dabei noch immer das Kochbuch ihrer Mutter benutzt, das in Frakturschrift gedruckt ist und den obskuren Namen Wiener Gasküche trägt (zu allem Überfluß hieß der Autor auch noch O. Heß). Nur dieses Rezept, das Therese Wendy auf einem Zettel aufgeschrieben hat und dessen Anweisungen Wendy den ganzen Nachmittag über, unten, in der Gemeinschaftsküche, peinlich genau befolgt hat, führt auch zu eben jenen Salzburger Nockerln, die Wendy seit ihrer Kindheit gewohnt ist und die sich im Geschmack von den Salzburger Nockerln, die man im Restaurant serviert bekommt, deutlich unterscheiden, ohne daß Wendy genau sagen könnte, wie.
Wendy balanciert mit Messer und Gabel ein Stück Salzburger Nockerln auf den Teller von Klaus und sagt: „Salzburg.“ Dieser Wortwechsel ist codiert.
Klaus von der FU Berlin schreibt seine Thesis über den Einfluß der österreichischen auf die britische Gegenwartsliteratur. Auf der Party am Samstag, auf der Jeremias, einer ihrer Kommilitonen, Wendy Klaus vorgestellt hatte, hatte Klaus nach einer Weile begonnen, von den Vorzügen Österreichs zu labern, die Seen, oh, die Süßspeisen, ah. Wendy hatte mit eingestimmt, weil sie plötzlich Heimweh bekommen hatte.
Als Klaus dann aber damit anfing, wie sehr Deutschland doch eigentlich Österreich bewundere — Deutschland fühle sich minderwertig, deshalb Ösi-Witze, schon seit Jahrzehnten, es gebe da sogar eine Magisterarbeit, Der Ösi-Witz, von einem Typen in Heidelberg, in Deutschland werde damit die Trennung von Österreich verarbeitet, so Klaus’ Theorie, die Trennung von der kleinen Schwester sozusagen — Freud, genau —, mit der es sich vereinigen wolle, Deutschland mit Österreich, Wendy verstehe (Klaus: Blick in Wendys Augen) —, da hatte Wendy Klaus dummerweise schon zu einer kleinen Runde bei sich zu Hause eingeladen, obwohl inzwischen, trotz zweier Pints britischen Bieres, Wendys in vier Jahren Studium angeeignete und wahrscheinlich auch noch im Schlaf abrufbare Textanalysefähigkeiten sie zu dem Schluß haben kommen lassen, daß Deutschland für Klaus, Österreich für sie, Wendy, die Seen für ihre körperlichen Reize und die Süßspeisen für den Sex mit ihr standen, Klaus würde sie gern „vernaschen“.
Mit „Salzburg“ widerspricht Wendy Klaus, ohne unhöflich zu sein, und gibt ihm zu verstehen, daß er die anzüglichen Anspielungen seinlassen soll.
Dieter aus Freiburg, der im Schneidersitz neben Klaus auf Wendys Bett sitzt, schaltet sich ein. Er fragt, ob er noch ein Stück haben könne, und lächelt dabei, zum ersten Mal an diesem Abend. Dieter steht auf Wendy. Genau so hat er ihr das mal nach dem Seminar gesagt.
„Wendy?“
„Ja?“
„Ich steh auf dich.“
Rote Birne. Bodenblick. Und weg war er.
Wendy war geschockt gewesen. Weil Dieter sonst im Seminar immer einen ganz normalen Eindruck gemacht hatte, nie um einen klugen Beitrag verlegen, auch sonst durchaus charmant und witzig. Alles Staffage also. Wenn es ans richtige Leben kam, dann wußten solche Typen halt nicht Bescheid.
Wendy denkt jetzt, während sie ein weiteres Stück aus den Salzburger Nockerln schneidet, Klaus ist ein Süßer. Wendy hätte gerne nach dem Seminar mit ihm Kaffee getrunken oder so, er hätte sie ruhig noch mal was fragen können, „Wollen wir mal ins Kino gehen“, oder „Wendy, was machen eigentlich deine Eltern?“ Aber seit seiner Aktion war er ihr aus dem Weg gegangen und hatte auch keinen besonders erfreuten Eindruck gemacht, als Wendy ihn zu sich einlud. Insofern deutet Wendy jetzt seine Nachfrage und sein Lächeln dahingehend, daß es ihm hier gefällt und er doch weiterhin an ihr interessiert ist.
Dieter hat ein Loch in seinem rechten Strumpf. Die Tür ist aufgerissen worden. Caesar hat gerufen: „Guys, you gotta watch the game.“
Klaus schaut Wendy und Dieter an, er fragt: „Are we going?“ Wendy sagt: „We could.“
Allgemeiner Aufbruch mit dem Teller in der Hand Richtung Aufenthaltsraum im Erdgeschoß des Graduate Wohnheims. Dieter geht mit Caesar voraus. Wendy scannt.
Weil in zwei Wochen Abgabe der Thesis ist, kann sie zur Zeit nur schwer abschalten, arbeitet innerlich auch in ihrer Freizeit an ihrem Thema. Seit einem halben Jahr sitzt sie jetzt schon an der Entwicklung einer weiblichen Software, das heißt einer Software zur Beantwortung der Frage: Wann ist ein Text weiblich? Die Software hat Wendy Gertrude nach Gertrude Stein genannt, kurz Gerti. Den ganzen Tag sitzt Wendy vor ihrem grünen Retro-Apple-Laptop und spricht Signalwörter ein, Symbole, die Hinweise auf eine geschlechtliche, in diesem Falclass="underline" weibliche Konnotation eines Textes geben könnten. Da wären Tiere: Katzen, Kitze, Stuten; Früchte: Birnen, Melonen, Feigen; da wären Farben: rot, rosa, gelb und lila. Wendy spricht Figurenkonstellationen ein: Mutter tot, Vater lebt, die bewunderte große Schwester, die bewunderte Freundin. Wendy programmiert die Butch, Wendy programmiert die Dyke, Wendy bestimmt: Was weist auf eine weibliche Syntax hin? Übermä-ßiger Gebrauch der Konjunktionen „und“ und „oder“, Interjektionen, Emily Dickinsonsche Gedankenstriche, Auslassungszeichen.
Wenn Wendy in diesem Moment auf das typisch männliche Vokabular Caesars und Klaus achtet — allein jetzt, innerhalb der letzten Minute, unglaubliche zwölfmal der Gebrauch der Apostrophe „man“! Sowie dreimal der Apostrophe „guys“, ganz zu schweigen von dem Gesprächsthema, dem männlichsten aller Spiele, American Football; dazu noch, als Steigerung, ein Wettbewerb, der Superbowl heißt! — und aus dem Augenwinkel den typisch effeminierten Dieter beobachtet — schmächtig, Rehaugen, dazu Bewegungen, die geschmeidig genannt werden können: Statt breitbeinig wie Caesar zu gehen, tippelt Dieter —, dann ist das sozusagen die Feuerprobe für Wendys Software; dafür, ob die Kriterien, die Wendy Gerti beigebracht hat, auch tatsächlich stimmen, das heißt in echt anwendbar sind.
Dieter sagt: „I really liked your Salzburger Nockerln.“
Wendy sagt: „That’s very nice, thank you. I spent the whole afternoon in the kitchen and nobody seems to have noticed that.“
08
Und sie tritt aus dem Büro ihrer Professorin, Frau Schauber, für Wendy Ines, ihre künftige Doktormutter, auf den Flur, sie hat eben erfahren, daß sie, wenn sie möchte, auf eine Forschungsstelle an die Humboldt nach Berlin gehen und dort Gerti weiterentwickeln könne, und ihr wird klar, daß sie, wenn sie jetzt Esther sieht, die von der Wartebank aufsteht und sie anlächelt, nicht mehr so tun kann, als sei noch immer alles so wie früher zwischen ihnen, und sie nimmt jetzt trotzdem Esthers Hand, weil sie noch nicht weiß, wie sie es ihr sagen soll.