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Früher, das heißt vor Oxford — Wendy erscheint das schon so lange her —, früher, da sind sie wie Zwillinge gewesen: dieselben Seminare, dieselben Noten, seit dem zweiten Semester unzertrennlich, immer gemeinsam unterwegs, gemeinsam im Urlaub, Wandern in Irland, gemeinsamer Vortrag auf dem LLC (Lesbian Literature Congress) in München, Wendy: Teil 1 (Theorie), Esther: Teil 2 (Textanalyse), ähnliche Klamotten, die sie, weil sie dieselbe Größe haben, regelmäßig tauschten, seit zwei Jahren gleicher Kurzhaarschnitt, zudem kommen sie, wenn sie miteinander schlafen, schon seit ihrem ersten Mal, damals in Esthers Bude, immer gleichzeitig.

Aber seit Oxford hat sich eben einiges geändert. . Denn obwohl sich sowohl Wendy als auch Esther faktisch im zehnten Semester befinden, ist Wendy Esther jetzt ein Jahr voraus, weil Esther erst im Herbst ihre Magisterprüfung haben wird, Wendy aber in Oxford in drei monsterstressigen Trimestern ihren Master absolviert hat. Das ist gerecht. Wendy hat in einem Jahr die Arbeit gemacht, die sie sonst in zwei Jahren gemacht hätte. Esther war in Salzburg geblieben, weil sie, im Gegensatz zu Wendy, ihre Hilfskraftstelle bei Ines nicht einfach so aufgeben wollte. Man habe nicht so viele Connections sonst, so Esther. An Esther kann Wendy sehen, wie ihr, Wendys Leben, in diesem einen Jahr verlaufen wäre, hätte sie sich gegen Oxford entschieden: Bis auf den Unterschied, daß Esther in ihrer eigenen Bude wohnt und nie ihre Eltern in Wien besucht, mit denen sie, seit sie 18 ist, nichts mehr zu schaffen hat, wäre Wendys Leben das Esthers gewesen.

Vor allem aber hat Gerti dazu geführt, daß Wendy sich selbst plötzlich anders wahrnimmt. Als sie zwei Wochen lang Schilderungen diverser weiblicher Kleidungsstücke in ihren Retro-Apple eingegeben hatte, hatte sie eines Abends Lust bekommen, so zu tun, als sei sie Leslie, die Heldin aus dem gleichnamigen NY-High-Society-Enthüllungsroman. Auf einem Ball der foreign students hatte sie sich zum ersten Mal seit fünf Jahren die Beine rasiert und ein Kleid getragen, ein Kleid à la Leslie: scharlachrot, kurz, mit Ausschnitt. Sie hatte Leslie-like mit einem US-Akzent gesprochen und zuerst mit einer Portugiesin, dann, wie Leslie, mit einem Schwarzen, der tatsächlich aus Brooklyn stammte, geflirtet.

Den ganzen nächsten Morgen hatte sie mit Heulkrämpfen im Bett verbracht. Sie hatte all das über Bord geworfen, für was sie und vor allem Esther gestanden und zumindest an der Uni sowie im Verein der lesbischen Frauen Salzburgs gekämpft hatten. Für einen Abend war sie eine von „jenen“ gewesen, „jene“, die kritik- und damit charakterlos die patriarchalische Ordnung bedienten, „jene“, die sich genauso kleideten und verhielten, wie Mann sich das eben so vorstellt.

Esther hatte sie beim täglichen Telefonat lieber nichts davon erzählt, so sehr schämte sie sich. Aber dann war sie wenig später beim Shoppen mit Björk, einer Austauschstudentin aus Rom, nicht, wie sonst immer mit Esther, in die Herren-, sondern in die Damenabteilung gegangen und hatte sich, wie sie beim Zahlen feststellte, genau die Klamotten-Kombi gekauft, die das garantiert heterosexuelle oder — wenn überhaupt, dann nur aus Modebewußtsein — temporär bisexuelle Lolita-Model trug, das auf dem Poster über der Kasse hing; ja, wie sie dann die grüne Strumpfhose, den kurzen Jeansrock und das gelbrosa gestreifte Top trug, hatte sie sich sogar leicht sexuell erregt gefühlt.

Seit Wendy wieder zurück ist, hat sie mit Esther noch nicht über diese Veränderungen gesprochen. Auch Esther hat bislang nichts über Wendys neues Outfit gesagt, wahrscheinlich hat sie selbst schon bemerkt, was los ist, und weiß, daß eine Aussprache jetzt den letzten Rest von dem zerstören würde, was einmal war.

Wie in der Vergangenheit checkt Wendy Esthers und Esther Wendys Gesicht, nachdem sie aus dem Bus gestiegen sind, wischen sie sich gegenseitig den dunkelbraunen Lippenstift von der Wange, gehen nicht mehr Hand in Hand die Straße entlang, in der Wendy mit Therese wohnt. Bei Therese, bei der sie, wie schon oft zuvor, zum Mittagessen eingeladen sind — es wird Gulasch und Nockerln geben —, werden sie wieder nur (nur in Anführungszeichen) beste Freundinnen sein. Therese hat schon genügend Sorgen. Zu wissen, daß ihre Tochter, ihre kleine Wendy, lesbisch ist und einmal keine Enkel auf ihrem Schoß sitzen werden, würde, so Wendy zu Esther, Therese das Herz brechen. Das versteht auch die ansonsten in solchen Dingen doch recht rigorose Esther und spielt mit. Gehen sie zur Versammlung des Vereins der lesbischen Frauen Salzburgs, gehen sie für Therese ins Kino. Schreibt Wendy eine Seminararbeit über Das Motiv der Vagina in Goethes frühen Gedichten, schreibt sie offiziell eine Seminararbeit über Goethes Liebeslyrik. Bleibt Wendy bei Esther über Nacht und schläft mit ihr, haben die beiden sich für Therese einen netten Videoabend gemacht, so wie sie selbst mit ihren Freundinnen früher auch.

09

Der Cursor blinkt noch immer hinter der Frage, die sie gerade diktiert hat, „Wie hat euch ‚Kubla Khan‘ gefallen?“

Sie wartet auf die erste Antwort; in der kleinen Box oben rechts wird angezeigt, daß alle Teilnehmer ihres virtuellen Einführungskurses in die englische Literaturwissenschaft anwesend, das heißt online sind.

Sie weiß schon. Peter mit dem User-Namen Pirat12, den sie sich als etwa 1,80 groß, leicht dicklich, mit Brille, Zigarette im Mund, Marke: Nerd, vorstellt, wird wieder als erster einen ehrlichen, aber nicht unbedingt qualifizierten Kommentar schreiben, geil, scheiße, et cetera.

Das ist gut! Das bricht das Eis. Sie hat nach einem halben Jahr virtuellem Einführungskurs ein gewisses pädagogisches Fingerspitzengefühl entwickelt. Was man tun muß, damit. Wie man fragen sollte, daß. Ziemlich viel hat sie auch von ihrer Kollegin: Xin, die merkwürdigerweise genauso alt ist wie sie, aber schon kurz vor dem Abschluß ihrer Dissertation über die Figur des Dritten in Shakespeares Königsdramen steht. Wie hat Xin das gemacht? Die detaillierte Gedichtanalyse mit Durchdeklinierung, Auflistung sämtlicher Stilmittel sowie Kurzinterpretation — die sie schon bereitgestellt hat und dann, wenn dieses einleitende Fragespiel vorbei ist, peu à peu in die Chat-Box kopieren wird —, die hat sie von Xin.

„Hat mir gut gefallen“, erscheint da auf Wendys Bildschirm, begleitet von einem elektronischen Glissando aufwärts. Keats3 alias Ali irgendwas schreibt das. War ja klar. Entweder tatsächlich ein Romantik-Fan, der Rüschenhemden trägt und die Coleridge-, Keats-, Byron-Gesamtausgabe besitzt. Oder nur ein Schaumschläger.

Wendy würde in diesem Moment Keats3 alias Ali irgendwas gerne sehen. Wendy findet es gut, daß ihre virtuelle Klasse sie in diesem Moment nicht sehen kann. Wendy hat sich vor einer halben Stunde, nach einer Nachtsession mit Gerti, aus ihrem Bett ins Atelier gequält. Ihr Haar ist zerzaust. Sie trägt den Flanell-Pyjama mit Affengrinsegesichtaufdruck, den sie neulich in einem Anflug von Nostalgie in einem Laden in Kreuzberg gekauft hat, weil sie früher, als der Vati noch lebte, genau so einen superbequemen Flanell-Pyjama mit Affengrinsegesichtaufdruck besessen, heiß geliebt, aber dann irgendwann verloren hat. . Sie hat an dem Tag, an dem sie ihn nicht mehr finden konnte, sehr geweint, das weiß sie noch. .

Sie ist gerade in einer komischen Stimmung, was entweder von Gerti und der Nachtsession herrührt oder von ihrer Periode. Wahrscheinlich hat sie wieder Pickel auf der Stirn. Sie hat noch nicht geschaut.