Marco Moreno schreibt: „Mir ist nicht klar, worum es in diesem Gedicht geht. Ist das ein Opium-Rausch? Ein Schöpfungsmythos?“ Gesicht mit Fragezeichen.
Wendy könnte Dummheiten machen. . Sie könnte kurz ihr Flanell-Pyjama-Oberteil mit Affengrinsegesichtaufdruck hochziehen, ihre Brüste schütteln, und keiner würde es merken. . Sie zieht kurz ihr Flanell-Pyjama-Oberteil mit Affengrinsegesichtaufdruck hoch und schüttelt ihre Brüste.
Rapunzel8 schreibt: „Die Schlußverse sind fantastisch.“
Wendy läßt den ersten Baustein von Xins Gedichtanalyse, die sie wahrscheinlich auch nur von irgendeiner CD-Rom oder von ihrem Vorgänger abgeschrieben hat, auf dem Bildschirm erscheinen.
Wendy überlegt, was sie in exakt 76 Minuten machen wird, wenn sie offline geht und den Retro-Apple auf Standby schaltet. Sie wird sich anziehen. Irgendwas Schickes. Einfach so. Etwas Mörderschickes. Weil sie sich danach fühlt. Dann einkaufen. Dann mit Esther telefonieren. Esther. Die Situation hier — Esther in Salzburg, Wendy in Berlin — hat ihrer Beziehung gutgetan. Wenn sie am Telefon reden, ist das fast genauso schön wie früher, als sie in wirklich redeten. Wenn sie sich einmal im Monat sehen, ist das noch schöner und intensiver als früher, als sie sich jeden Tag sahen. Die Behauptung, daß man sich in einer Fernbeziehung auseinanderlebt, weil man nichts mehr gemeinsam unternehme, ist falsch. Wendy vereinbart mit Esther zum Beispiel regelmäßig, daß sie sich beide bis zum nächsten Telefonat einen bestimmtem Film angesehen, daß sie bestimmte Bücher gelesen haben werden. Über die können sie dann sprechen. Erfahrungen austauschen. Ja, manchmal machen sie sogar den genauen Zeitpunkt aus, wann sie beide — 600km voneinander entfernt und trotzdem zusammen — den jeweiligen Film ansehen, den jeweiligen Text lesen werden. Sitzt Wendy dann in Saal Drei des neuen Multiplex in Mitte in der neuen Verfilmung von Pride and Prejudice und sieht, wie Elizabeth Bennet Mr. Darcy von der Seite ansieht, weiß sie, Wendy, daß Esther genau in diesem Moment in Saal Acht des neuen Multiplex in Salzburg sitzt und sieht, wie Elizabeth Bennet Mr. Darcy von der Seite ansieht. Und natürlich die Option Telefonsex. Während Wendy masturbiert, hält sie die Kamera des Handys über ihre Brüste, ihren Bauch, den Finger in ihrer Vagina, ihr Gesicht und stöhnt ins Mikro des Headsets. Das Handy hat sie an ihre Plasma-Wand angeschlossen. Wendy sieht Esthers Brüste, ihren Bauch, den Finger in ihrer Vagina, ihr Gesicht, aus den Boxen hört sie Esther stöhnen, was sie am meisten anturnt. Sie schließt dann meistens die Augen, hört nur noch diesem Stöhnen zu und spürt die wachsende Wärme und Helle in ihrem Brustkorb.
Wendy hat noch nicht aus dem Fenster geschaut. Aber der Wetterbericht hat vorhin gesagt, es seien heute in Berlin 21 Grad und es sei wolkenlos. Sie wird am Nachmittag joggen. Ihre Runde. Das wird ihr guttun. Sie stellt sich vor: die Luft. . die Vögel. . das Grün. . den blauen Himmel. . nach dem Joggen fühlt sie sich immer befreit. .
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Beim Joggen im Park von Schloß Charlottenburg, an den Bäumen vorbei, an denen schon die ersten grünen Blätter zu sehen sind — und die Vögel! und die Luft! — , denkt sie, daß die Situation hier, die Arbeit an der Dissertation, die Einführungskurse, sie hier, Esther in Salzburg, daß das alles, obwohl das im Moment OK und schön ist, nur eine Übergangsphase ist, nach der dann, in ein, zwei Jahren, ihr richtiges Leben beginnt.
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Sie sitzt der Mama in der Küche gegenüber, die Mama erzählt was — Wendy achtet nicht darauf, was. Wie oft hat sie sich im Apartment in Berlin, nachts, vor dem Einschlafen, während der Arbeit an Gerti, im Oberseminar vorgestellt, wie sie hier der Mama in der Küche gegenübersitzt, das graue Haar der Mama, ihr Gesicht, der Waschmittelgeruch ihrer Bluse, die Kerbe in der Mitte des Küchenholztisches! Wie oft hat sie die Augen geschlossen und ihre Mutter im beigen Morgenmantel gesehen, wie sie, bevor sie schlafen geht, noch mal ins Wohnzimmer kommt, ihr, Wendy, einen Gutenachtkuß auf die Stirn gibt und sagt, sie solle nicht vergessen, wenn sie mit dem Lesen fertig sei, das Licht auszumachen!
Wie bei jedem Besuch in Salzburg ist Wendy ein wenig beunruhigt, weil die Mama so einen einsamen Eindruck macht; ihr fehlen die Kinder in der Schule, weiß Wendy, die Kollegen; statt dessen malt sie Bilder, Öl, Landschaften, Salzburg, Objekte in der Wohnung, nicht schlecht, soweit Wendy das beurteilen kann; die Mama malt nur für sich, und sie, die Mama, denkt daran, daß sie eigentlich mal auf der Akademie freischaffende Künstlerin werden wollte, sie hatte ja auch ein paar Ausstellungen, damals; sie denkt an das Leben, das auch hätte sein können, weiß Wendy und hat ein schlechtes Gewissen und muß sich doch immer wieder sagen, daß sie es hier keine Woche aushalten würde, so schön es auch gerade ist.
Und Esther. Wie oft hat sie sich danach gesehnt, vor Esthers Wohnungstür zu stehen. . Esthers freudestrahlendes Gesicht. . ihre Lippen. . ihre immer leicht rauhen Lippen mit Nikotingeschmack. . faule Sonntage zu zweit im Bett. . wo sie schon so oft in der Vergangenheit ganze Nachmittage mit Diskussionen verbracht haben. . wo sie sich geliebt haben. . den österreichischen Dialekt im Ohr und nicht dieses Berliner Gebell. . Hand in Hand durch Salzburg gehen, auf dem Weg zu ihrer Stammkneipe, den Kuttenkeller.
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Sie liegt auf dem Rücken im Bett. Durch das geöffnete Fenster dringt von draußen der Straßenlärm, eine Autoalarmanlage, Kinder, die spielen. Sie hat den rechten Arm über ihren Kopf gelegt. Sie atmet gleichmäßig.
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„Das sollte also das letzte Mal sein. Walter konnte seine Trauer kaum verbergen. Kaum, daß er einen Satz herausbrachte. Er schämte sich dafür, daß seine Stimme zitterte. So wie Elsbeth da vor ihm stand, so wollte er sie sich einprägen und für immer im Gedächtnis behalten. Für immer — denn falls er nicht einmal doch nach Amerika kommen sollte, was er für nicht recht wahrscheinlich hielt, würde er Elsbeth, seine Elsbeth, mit der er so oft im Heu gelegen hatte, mit der er die Kühe gehütet hatte und der er im Sommer oben am Waldbach seine Liebe gestanden hatte, nie wiedersehen. Warum hatten es sich ihre Eltern auch in den Kopf gesetzt, es den vielen anderen im Dorf gleichzutun und auszuwandern? Und warum war seine Familie nicht wohlhabend genug, so daß er um Elsbeths Hand hätte anhalten können?“
Wendy hört zu diktieren auf. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Wie schon die letzten Tage und Nächte sieht sie auch jetzt Esthers Gesicht vor sich.
Esther, die weint, als Wendy ihr sagt, sie glaube, es habe keinen Sinn mehr mit ihnen.
„‚Meine Elsbeth!‘ und immer wieder ‚Meine Elsbeth!‘, seufzte er, als er sich herunterbeugte und sie ihre zarten Arme um ihn schlang. Es war ihm, als müßte er vergehen. ‚Walter! Mein Walter!‘, hörte er sie schwach.“
Wendy löscht „schwach“ und diktiert: „hauchen. Noch einmal berührten sich ihre glühenden Lippen. Und während sie so standen, spürte er, wie ihr Herz an seiner Brust schlug, schnell und heftig, als wäre es sein eigenes.“
Wendy hört zu diktieren auf.
Im Lauf der letzten zehn Jahre haben sich ziemlich viele solcher Mitten von potentiellen Romanen in ihrem Retro-Apple angesammelt. Meistens zwei, nie mehr als zehn Seiten. Wendy findet sich gerade ganz schön inkonsequent. Sie denkt: Irgendwie setze ich mich immer spontan hin und schreib los und verlier dann das Interesse daran, und bevor ich etwas fertigmache, fange ich lieber was Neues an, ich hasse das, ich hasse das, ich hasse das.