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Wallner hat sich vorgenommen, lediglich Stichproben durchzuführen und nicht alle Fotos anzuschauen. Man hebt einen Stoß Fotos ab, betrachtet das zufällig aufliegende Bild, in diesem Falclass="underline" den etwa 50jährigen Günter Wallner mit Kniehosen und Wanderstock vor einer Waldkulisse, ungewohnt: mit schwarz-grauem Bart. Hier, im abgeschlossenen Hobbyraum, ist es dann auch, im Unterschied zu Bergisch-Gladbach, wo Ana anwesend war, möglich, den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Es tut gut, einfach einmal so für eine Minute zu weinen, aus Trauer darüber, daß der Vater gestorben ist, daß man nie wieder mit ihm reden können wird.

Das nächste Foto, das aufliegt, nachdem Wallner einen weiteren Stoß abgehoben hat, zeigt seinen Vater, ungefähr 70, an der Seite einer etwa gleichaltrigen Frau, wasserstoffblond, er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, beide lächeln, im Hintergrund der Petersdom.

Wallner sagt: „In Rom ist er auch gewesen.“

Handelt es sich bei der Frau um eine der Lebensabschnittsgefährtinnen seines Vaters, so wird sie seine letzte gewesen sein. Allerdings können die beiden zum Zeitpunkt des Tods von Wallners Vater nicht mehr zusammengewesen sein, jedenfalls war die Abgebildete nicht im Testament berücksichtigt worden. Sie und sein Vater werden, solange sie ein Paar gewesen waren, Ausflüge wie hier nach Rom gemacht, Kirchen und Museen besichtigt haben, gemeinsam essen gegangen sein. Sein Vater wird ihr viel von sich erzählt haben und dabei, zwangsweise, auch auf ihn, den Sohn, zu sprechen gekommen sein. Die Lebensabschnittsgefährtin wird Wallners Kindheit und Jugend kennen und über seine Familie Bescheid wissen, die Version des Vaters, versteht sich. Sie wird versucht haben, Wallners Vater zu erreichen und wird ihm zuerst höfliche, dann vielleicht immer verzweifelter werdende, in jedem Fall aber inzwischen wieder gelöschte Nachrichten auf dem AB in der Kiste rechts hinterlassen, von seinem Tod aus den Zeitungen erfahren, geweint, eine Kerze an seinem Grab angezündet haben.

Sollte sie eines Tages hier in Cham anrufen und Forderungen stellen, dann weiß Wallner jetzt, wie er sie sich vorzustellen hat.

Die nächsten Fotos aus dem Stoß sind Aufnahmen von Blumen.

Unter der Schuhschachtel mit den Fototaschen liegt das mit dunkelblauem Filz bezogene Album. Als er ein Kind war, hat er es zusammen mit seinem Vater angeschaut, später, während der Schulzeit oder wenn er von Regensburg aus auf Besuch war, auch allein. Nahezu dieselben Bilder kleben in einem anderen in dunkelbraunes Leder gebundenen Album, das er von seinen Großeltern geerbt hat und das jetzt oben im Wohnzimmer steht. Durch die Schwarzweißfotos in beiden Alben kann sich Wallner die Mama als 17jährige Schülerin vorstellen, als 23jährige Braut, 35jährige Mutter und als 38jährige Schilddrüsenkrebspatientin. Er kennt die Fotos auswendig, er muß das dunkelblaue Album jetzt nicht noch einmal aufschlagen, er weiß, daß am Ende das Porträt der ungefähr 30jährigen Else Wallner (mit geschlossenem Mund lächelnd, sie trägt eine Perlenkette, sie hat sehr volles schwarzes Haar) eingeklebt ist, das sich sowohl auf dem Schreibtisch seines Vaters in Bergisch-Gladbach befunden hat als auch auf seinem eigenen Schreibtisch, oben im Büro, steht.

Er sagt: „Das ist jetzt das“ und holt zwei Ordner aus dem Umzugskarton, die die mit einer Schablone aufgemalten Aufschriften Fälle und Rechnungen tragen. Der Fälle-Ordner ist durch farbige Einlagen unterteilt. Die Abfolge der Seiten innerhalb jeder farbigen Einlage ist, soweit Wallner das erkennen kann, stets dieselbe. Auf der ersten Seite wird ein Fall beschrieben, Wallner liest von einem X, männlich, der mit Y, männlich, einen Vertrag abschließt und diesen vorzeitig auflösen will, auf der zweiten Seite steht eine Frage zu dem Fall, „Ist die vorzeitige Auflösung des Vertragsverhältnisses möglich?“, die folgenden Seiten enthalten eine Bearbeitung der Frage, „Nein“.

Wallner sieht seinen Vater, seit dessen Pensionierung Tutor für Jura-Studenten, in seiner Wohnung in Bergisch-Gladbach auf dem Sofa sitzen, das momentan noch im Partykeller lagert, neben ihm auf dem zum Sperrmüll gegebenen Sessel ein Jura-Student mit Brille und blond gefärbtem Haar. Wallners Vater und der Jura-Student haben sich über das rote BGB, das Stefan Wallner in Bergisch-Gladbach in einen der blauen Säcke gesteckt hat, auf dem ebenfalls ausrangierten Wohnzimmertischchen gebeugt. Wallners Vater erklärt dem Jura-Studenten einen Fall und bezieht sich auf die Zeit, als er selber Anwalt war.

Nein.

Wallner sieht seinen Vater allein im Wohnzimmer in Bergisch-Gladbach auf dem Sofa, vor sich auf dem Tisch den roten Schönfelder. Sein Vater verbringt seit seiner Pensionierung einen Teil seiner Zeit damit, sich Fälle auszudenken und diese dann selber zu lösen, zum Spaß. Es gab keinen Jura-Studenten mit Brille und blond gefärbtem Haar, dem sein Vater Nachhilfe erteilte. Die Telefonrechnungen vom Dezember des vorletzten und Januar des letzten Jahres im Rechnungen-Ordner, deren abgeheftete Seiten Wallner einmal vom Anfang bis zum Ende an seinem Daumen entlangblättern läßt, sind in bezug auf die Anzahl der Verbindungen und die daraus entstandenen Kosten nahezu gleich.

Nebenan ist es still geworden. Er sieht Costin vor sich, verschwitzt, mit weißem Stirnband, der die Kamera ausschaltet und zur Tür geht. Wallner holt aus dem Karton das Radio mit Kassettenrekorder und dreht den Schlüssel so leise wie möglich im Türschloß um. Er tritt aus der Tür, wartet ein bißchen, dann tritt auch Costin, verschwitzt, mit weißem Stirnband, aus der Tür des Partykellers nebenan.

Costin sagt: „Hechel. Bin ich platt. Fürs Büro?“ und deutet auf das Radio in Wallners Hand.

Wallner sagt: „Für Ana.“

Als Wallner in die Küche tritt, steht Ana gerade vornübergebeugt am geöffneten Ofen. Es riecht nach Kuchen. Wallner stellt das Radio auf die Ablage neben dem Herd. „Schau mal. Kannst du das brauchen?“

Ana sieht kurz auf.

Wallner fragt: „Was machst du gerade?“

Ana sagt: „Ich backe.“

Wallner hat das Radio eingesteckt. Der Sender, der eingestellt ist, spielt einen Popsong, der letzten Sommer ein Hit war.

18

Sein rechter Schnürsenkel ist aufgegangen. Wallner geht vor der Tür von Wigets Büro in die Hocke und legt den Aktenordner auf den Boden. Hinter der Tür unterhält sich jemand, wenn sich Wallner nicht täuscht, flüsternd. Als Wallner sich wieder erhebt, hört er deutlich, wie die Worte „Wallner“, „Entmündigungsverfahren“ und „Dr. Kaduk“ fallen.

Wiget hat „Dr. Kaduk“ gesagt.

Er weiß von Wallners Arztbesuch.

Frau Beck zischt: „Aber der hat das doch unterschrieben. Das muß Herr Wallner ja nicht erfahren.“

Wallner klopft kurz und tritt ein. Frau Beck trägt ein hellrotes Sommerkleid mit Sonnenblumen. Wallner bemerkt, daß sein Herz wie wild schlägt, schon die ganze Zeit über. Frau Beck sagt zu Wiget, normal laut: „Und dann sage ich zu meinem Mann, entweder wir fahren jetzt nach Madrid oder. .“

Wiget lacht laut auf und sagt: „Hallo, Stefan. Und wißt ihr auch schon, wohin ihr heuer in den Urlaub fahrt?“

Wallner sagt: „Ach so. Wohin wir heuer in den Urlaub fahren?“

19

Wallner klingelt an der Haustür der Wigets, schultert seine Sporttasche und streicht noch einmal mit der Hand über seine Frisur. Wiget öffnet ihm. Bis auf das weiße Handtuch, das er um die Hüfte geschwungen hat, und die Flip-Flops ist er nackt.

Im Haus riecht es nach Kuchen. Astrid backt gerade eine Torte für Patrick, der morgen Geburtstag hat. Wallner küßt Astrid auf die Wangen und holt aus der Sporttasche das Geschenk für Patrick, das Ana besorgt hat, ein Computerspiel, in dem, soviel man der Beschreibung der Rückseite entnehmen konnte, der Spieler im Ersten Weltkrieg wahlweise als General Schlachten plant, unter anderem auch jene von Verdun — Change History! steht auf dem grellgelben Aufkleber auf dem Cover —, oder aber als Soldat an der Front kämpft. Ana sagt, daß der Verkäufer in Nürnberg ihr erklärte, daß sich das Spiel bei der Gruppe der 15- bis 25jährigen größter Beliebtheit erfreue.