Bei der Verabschiedung hat Jo gesagt, es habe trotz allem gutgetan, daß Wendy dagewesen war, auf dem Stuhl — er deutet auf den Stuhl, wo Jennifer gesessen hat — habe Costin immer gesessen, es sei derselbe Stuhl, der Raum sei jetzt der Konferenzraum, also eigentlich das Zimmer, für wenn sie mal Bands oder so zu Gast haben, früher sei es Costins Büro gewesen. Ja. Jetzt habe Wendy das auch mal gesehen, sie sei ja, wenn er sich richtig erinnere, noch nie hier gewesen.
Auf der Straße denkt Wendy: Hoffentlich denkt jetzt der Dr. Stefan nicht, was für eine Zeitverschwendung, für dieses überdrehte Töchterlein, eigentlich ist der ja auch ganz attraktiv, Altersunterschied und Vaterfigur hin oder her, hm.
Sie blinzelt Dr. Stefan an, dessen Kopf gerade die Sonne verdeckt.
Dr. Stefan sagt: „Gut. Ich werde mir dann mal die Unterlagen ansehen und Sie demnächst wissen lassen, wie es um BIBO bestellt ist. Grüßen Sie Frau Hassel von mir, wenn Sie sie sehen.“
16
Sie hat sich lang gemacht, hat sich auf die Zehenspitzen gestellt und drückt die Klinke der Wohnungstür herunter. Zwei Gendarmen stehen vor der Tür. Sie erkennt sie an ihren blauen Uniformen und den komischen Mützen, die sie abgenommen haben und in der Hand halten. Da hat sie Angst gekriegt. Sie versteckt sich hinter der Mama, die schon durch den Flur gekommen ist. Sie steht hinter dem Rock der Mama, es ist ein roter Rock mit Blumen, den hat Therese gar nicht mehr, muß sie ausgemustert haben, denkt Wendy, sie steht hinter dem Rock und hält ihn mit den Händen fest und lugt ab und zu aus ihrem Versteck hervor.
Die Gendarmen sind gekommen, weil Wendy neulich Bonbons im BILLA gestohlen hat, sie wollte die Bonbons nicht stehlen, sie hat sie aus dem Regal genommen, und weder die Mama noch der Mann an der Kasse haben etwas bemerkt, und ihr ist erst nachher, in ihrem Zimmer, eingefallen, daß sie etwas Böses getan hat, und sie hat nicht einschlafen können, aber der Mama hat sie nichts gesagt und dem Vati schon gleich zweimal nichts. Die Gendarmen sagen, daß der Vati einen Unfall gehabt habe und daß es ihnen leid tue, und die Mama hat die Hände vors Gesicht geschlagen und einen ganz kurzen hohen Schrei gemacht, und die Gendarmen haben gesagt, daß der Vati tot sei.
Wendy sieht diese Szene noch immer vor sich. . Sie kann sich noch genau an diese Bilder erinnern. . Was dabei aber gesagt wurde, das ist ihr erst später von Therese erzählt worden, auch das mit dem Schrei. Als seien die Bilder Jahre später nachsynchronisiert worden.
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Sie nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glas. Das Glas hat da schon gestanden, als sie hereingekommen ist. Vielleicht haben daraus die beiden vor ihr, die aus Greifswald und der aus Regensburg, getrunken, wer weiß. . Sie spürt die Kohlensäure im Hals, prickelnd, und hofft, daß sie davon nicht in den folgenden 45 Minuten aufstoßen muß. Sie schaut auf die erste Seite ihres Skripts auf dem Bildschirm ihres grünen Retro-Apples.
„Meine Damen und Herren. ‚How digital are you?‘ lautet der Titel meines Vortrags.“
Sie scrollt noch mal bis zum Schluß des Skripts, um sich zum dritten Mal heute zu vergewissern, daß es auch wirklich vollständig im Computer vorhanden ist.
Ihres Wissens gibt es erstaunlicherweise relativ wenige Aufsätze zum Teddy-Phänomen, das heißt der Verdrängung der Bücher in den letzten zwanzig Jahren durch Texts on Discs, im Volksmund: Teddys, vor langer Zeit auch Hyper-Novels genannt. Autoren sind kaum mehr in Papierform zu bekommen, zum Beispiel die Klassiker, Shakespeare, Austen, Joyce et cetera, sondern nur mehr in der Teddy-Version, als Shakespeare-Teddy, Austen-Teddy, Joyce-Teddy, et cetera.
Eigentlich hatte Wendy einen Vortrag halten wollen mit dem Titel Lieben Sie Hayden? — Über die Unmöglichkeit der Darstellung von Geschichte. Seit ihr Esther bei einem ihrer letzten Streite ins Gesicht geschrien hatte „Und weißt du, was mich am meisten ankotzt?? Du gehst einfach so durchs Leben, total unreflektiert, du denkst nicht mehr über deine Sexualität nach, und du denkst nicht darüber nach, wer du eigentlich bist, woher du kommst“, seitdem hatte sich Wendy, vielleicht aus Trotz, für aktuelle Geschichtstheorien zu interessieren begonnen. In ihrem Vortrag hätte sie die nach den Diskussionen über „den Fakt“ und „das Faktische“ in den letzten Jahrzehnten wieder in Mode gekommenen Thesen Hayden Whites aufgegriffen — die Geschichtsschreibung bedient sich fiktionaler Plot-Muster — und diese auf die neuesten Medien angewandt. Folgende Fragen beschäftigten sie: Was für einen Effekt hat die Verdrängung der Schrift- durch die Bildmedien auf die Geschichtsschreibung? Wenn heute Geschichte nicht mehr geschrieben, sondern, strenggenommen, gesprochen, nämlich diktiert, wird, kann man dann von einer neuen „oral culture“ und einem „Neuen Zeitalter des Mythischen“ sprechen? Leider war sie mit dem Thema nicht zu Rande gekommen, ihre Recherchen verschlangen viel mehr Zeit, als sie gedacht hatte, so daß sie schließlich doch auf Nummer Sicher ging und das wesentlich ungefährlichere, aber dankbarere Thema der Teddys wählte.
Der Herr vom Institut neben ihr, den sie nicht kennt, stellt sie vor, er spricht von ihr als Frau Wallner, was ihr noch immer einen kurzen Stich gibt, weil sie sich noch immer nicht hundertprozentig an ihren neuen Nachnamen gewöhnt hat, seit sie ihn nach ihrer Thesis, auf deren Titelblatt sie die Verfasserin mit Wendy Wallner angab, beim Einwohnermeldeamt in Salzburg anstelle von Scharnagl eintragen ließ.
Sie kann nur gewinnen. Eigentlich ist die Stelle eine Junior-Professur mit Schwerpunkt Medientheorie. . Also ist Wendy eben Medientheorie-Spezialistin und war Medientheorie eben eigentlich immer schon ihr Schwerpunkt und, das wird sie nachher im Gespräch mit der Kommission sagen, ihre heimliche Leidenschaft, obwohl der Vortrag hier strenggenommen ihre erste Arbeit über Medientheorie ist, die Programmierarbeit an Gerti mal nicht mitgerechnet.
Der Herr vom Institut hat aufgehört zu reden. Sie schaut von ihrem grünen Retro-Apple in die Runde der fünf Professoren der Kommission in den Bänken vor ihr, beugt sich zum Mikro und sagt: „Meine Damen und Herren.“
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Sie erinnert sich an das Glas Wasser, das genau hier rechts von ihr auf dem Rednerpult stand, sie hat von dem Sprudel aufstoßen müssen, während ihres Vortrags, und das ist peinlich gewesen, und sie erinnert sich an den grünen Retro-Apple, der sich genau da vor ihr befand, wo jetzt die Ausdrucke liegen, die sie gerade noch mal durchblättert, der grüne Retro-Apple, der fünf Minuten vor Schluß abstürzte, auch das megapeinlich, und sie schaut auf die Uhr an der Wand hinter ihr, Viertel nach, und schaut in die spärlich gefüllten Reihen, die Studenten, die alle noch ganz schön verschlafen aussehen, sie ist immer eingeschlafen in so frühen Vorlesungen, hat dabei sogar immer sehr gut und fest geschlafen, und sie sagt: „Guten Morgen, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zur Einführung in die Medientheorie.“
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Sie schaltet die Stehlampe ein und macht einen Schritt zurück, um zu sehen, ob sie irgendwas vergessen hat, ob alles so OK ist, ob alles schön ist. Ihr fällt auf, daß die Sachen aus der Berliner Wohnung gut hierherpassen. Die Stehlampe ist zwar nicht aus Berlin, sieht aber genauso aus wie die Stehlampe im Schlafzimmer in Berlin. Wendy hat sie hier im Möbelhaus gekauft, sie war, als sie sie dort entdeckte, für einen Moment irritiert, was macht die Stehlampe aus Berlin im Möbelhaus in Konstanz? Konstanz ist scheußlich, findet Wendy. Aber die kleine Wohnung und insbesondere ihr Wohnzimmer sind heimelig geworden. Das Regal aus dem Atelier steht hier im Wohnzimmer an der Wand, der Küchentisch ist der Eßtisch, der Australien-Quilt liegt darunter, besonders peppig auch: die Neger-Büsten, die sie in Berlin im Kellerabteil gefunden und die sie aufs Fensterbrett gestellt hat. Der Papa muß sie in einem Geschäft in Deutschland gekauft haben. Wendy zündet die beiden Kerzen auf dem Tisch an und öffnet ihr Haar.