Vor dem Schlafengehen steht Wendy vor dem Spiegel im Bad, trägt Anti-Aging-Gesichtscreme auf und bürstet ihr Haar mit den grauen Strähnen. Zu ihrem Spiegelbild sagt sie: „Nein, Hajem, laß uns das mal alles langsam angehen. Ich gehe jetzt nach Hause. Wollen wir telefonieren?“
Sie schwäbelt dabei ein wenig, weil Tina ein wenig schwäbelt —.
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Wendy ist zusammengezuckt, als Jennifer auf Tinas Frage hin, welche Bands denn bei BIBO so unter Vertrag seien, neben Tau, den KOPs und Rottweiler auch Onkelchen nannte. Wendy reagiert immer noch allergisch auf jede Art von Onkel-Themen. Obwohl sie ja schon seit gut einem halben Jahr mit dem zweiten Buch fertig ist, durchlebt sie in solchen Momenten quasi im Zeitraffer die gesamte Anspannung der vergangenen Jahre, die durchgeschriebenen Nächte, das Fingernägelkauen, das Auf-und-ab-Laufen im Zimmer.
Wenn einer hier am Tisch fragt, was Wendy denn zur Zeit so mache, wird sie sagen, sie schreibe noch immer an ihrem zweiten Buch, das sie plane, in einem halben Jahr abzuschließen. Tatsächlich weiß niemand, daß sie offiziell zwar zur Vollendung ihres Buchs weiterhin das 12-Monats-Stipendium kassiert, das ihr vollkommen überraschend von der Uni angeboten worden war — Stiefellecken pays —, in Wirklichkeit aber die 263 Seiten ihrer Arbeit auf der Festplatte ihres rosa Retro-Apples schon lange nicht mehr angesehen und sich statt dessen hier und da eine Romanmitte vorgenommen hat, um sie weiterzuschreiben, Tolstoi liest, viel im Bett liegt, Minzbonbons kaut und über ihre Zukunft nachdenkt. Ob sie eine vernünftige Wendy sein will und sich jetzt in Bälde auf C3-Stellen bewerben soll. . oder ob sie lieber jetzt zur Abwechslung die wahre Wendy ist, die sie sich all die Jahre zu sein nicht getraut hat, und ein bißchen mehr auf sich selber schaut, das heißt Sport treiben, gesund essen, ausgehen, schön aussehen et cetera. Auch wenn wohl mittlerweile feststeht, daß Wendy das Leben, das sie sich noch vor zehn Jahren vorgestellt hat — sie: Mutter mit Tochter und beliebigem Er, der a) fürsorglich ist und b) gut verdient —, nie führen und eben dieses Leben ein Traum bleiben wird, möchte sie doch wenigstens jemanden haben, der nicht ihr Teddybär ist und den sie abends in ihrem Bett umarmen kann, mit dem sie reden kann, der sie versteht, der sagt, wie sehr er sie mag und so weiter.
Das einzige Hindernis auf dem Weg zur wahren Wendy könnte dabei Therese sein. Therese ist von der Leiter gefallen und liegt im Spital. Wendy fühlt sich verpflichtet, sich zu kümmern. Aber das ist es nicht. Das Problem sind die diversen Post-Spital-Szenarien, Therese im Rollstuhl, Therese mit Wägelchen, Therese bettlägerig. Wendy, die möglicherweise sogar bei Therese einziehen muß. Wendy als Pflegerin. Wendy ist die Tochter. Sie denkt: Wenn wir hier fertig sind mit dem Abendessen, muß ich unbedingt noch packen, die Magnetschwebebahn nach Salzburg morgen ist doch ziemlich früh, um zehn war die, glaube ich.
Parsifal, Tinas neuer Freund, hat Jo gefragt, was er und Jennifer jetzt, nachdem BIBO Insolvenz angemeldet habe, vorhaben. Jo und Jennifer haben gleichzeitig zu reden angefangen, dann sofort aufgehört, sich anschauend, lachend, „Ne bitte“ sagend.
Jo sagt: „Ich werde mal sehen, was sich so im Kulturmanagement-Bereich findet.“
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„Schwester? Sind Sie das? Andrea? Ist es schon wieder Abend? So schlecht habe ich geschlafen. Und die Schmerzen werden einfach nicht besser. Da in der Hüfte. Schlafen kann ich nicht. Aufstehen kann ich nicht. Nur liegen geht. Aber das ist ja nichts. Wenn ich was halte, dann tut das auch schon weh. Können Sie nicht noch mal den Herrn Doktor fragen, wegen der Mittel.“
„Mama?“
Die Mama hat sich im Bett umgedreht.
„Ach, du bist ja gar nicht die Andrea, ich habe jetzt gedacht, du bist die Andrea, na, das ist ja eine Freude, daß’d gekommen bist.“
Wendy beugt sich zur Mama und umarmt sie.
„Das hatten wir ja doch so ausgemacht, elf Uhr hatten wir doch gesagt, oder liege ich jetzt ganz falsch, grüß dich Gott, Mama.“
„Nein, nein, ich erinner mich jetzt, natürlich, elf Uhr, natürlich, ich habe nur gerade gedöst, eine schöne blaue Bluse trägst du.“
„Gehts dir gerade nicht so, soll ich am Nachmittag kommen. .“
„Natürlich bleibst jetzt hier, das ist alles halb so wild, alles halb so wild ist das. Nach dem Schlafen ists immer ein bisserl arg. Aber sonst bin ich ja schmerzfrei. Und beim Gehen mach ich Fortschritte. Hier durchs Zimmer bin ich schon gewatschelt. Mit der Andrea. Na, was sagst jetzt dazu? Und wenn es zu langweilig wird, da schau ich halt dann was im Fernsehen oder ich les was. Du, holst ma was zum Malen von zu Haus. Bist du so lieb?“
Wendy hat gemerkt, daß ihr, wie sie am Bett steht und die Mama da so liegen sieht, die Tränen gekommen sind. Sie beugt sich noch mal zu ihr herunter und umarmt sie.
„Ach, Mama, was machst du denn, Mama.“
Wendy spürt die glühenden Wangen ihrer Mutter an ihrem Gesicht, weint sie auch? Sie kann es nicht sehen.
„Ich weiß auch nicht. Die Schmerzen werden einfach nicht besser. Das bessert sich überhaupt nicht. Da in der Hüfte. Schlafen kann ich nicht und aufstehen auch nicht richtig und kaum, daß ich was halten kann. Man muß doch mit dem Herrn Doktor reden, wegen der Mittel.“
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In der Magnetschwebebahn schaut sie aus dem Fenster, und sie sieht die Mama, wie sie da im Bett liegt, blaß, zerbrechlich, und überhaupt nicht wie jemand, der Anfang 60 ist — diese Schauspielerin, die Wendy neulich im Fernsehen gesehen hat, die ist doch auch Mitte 60, und wie sieht die aus, bitte —, sondern eher 70, über 70, ja, die Mama, die bis vor kurzem immer die Getränkekisten und die Einkaufstüten selber in den dritten Stock hochgetragen hat, ohne den Lift zu nehmen — a Lift is was für alte Leut’ —, die im Schlafzimmer im knielangen Hemd vor ihrem Sockel stand und Köpfe, Tiere und Pflanzen aus Gips knetete. . die Mama, wie sie da im Bett liegt und zum Abschied schwach den Arm hebt. . wie sie den Kopf gereckt hat und Wendy, die sich noch mal in der Tür umdreht, einen Kuß durchs Zimmer schickt, mit großen, ja, ängstlichen Augen nachschaut. .
„Wir erreichen in Kürze Nürnberg Hauptbahnhof“ ist aus dem Waggonlautsprecher gekommen, „dort haben Sie Anschlußmöglichkeiten mit dem Country-Expreß nach Regensburg, Ingolstadt, Weiden.“
Wendy sieht die vorbeiflitzenden Baumwipfel, einen Hügel in der Ferne, Dächer, eine Kirchturmspitze, den Kondensstreifen am Himmel, unbeweglich. Plötzlich ist sie aufgesprungen und hat in das überraschte Gesicht des grauhaarigen Rentners gegenüber geblickt.
Die, seine? Frau neben ihm hat gesagt: „Na, denn mal aber schnell.“
Wendy denkt: Heute ist Sonntag, und morgen ist Montag, und der Termin beim Frauenarzt ist Dienstag um 11:30 Uhr.
Sie zieht ihre Reisetasche aus dem Gepäckfach und stellt sich in die Schlange, die am Ausstieg ansteht.
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Nein, sagt der Pförtner der Firma Wildberg, die, glaubt Wendy sich zu erinnern, entweder Wurst oder Joghurt herstellt. Seine Stimme klingt durch den Lautsprecher in der Glaswand, hinter der er in seinem Kabuff sitzt, metallen, im Hintergrund Schlagergedudel.
Eine Firma Wallner gebe es hier im Gewerbepark nicht und habe es, seines Wissens, und er sei hier, seit Wildberg hier sei, seit 15 Jahren also, nicht gegeben. Im Gewerbepark in Chammünster und in Cham überhaupt. Die älteste Firma hier? Ja, er denke, die am Ende der Straße, die sei am längsten schon hier, der Heizkessel-König. Seit Jahrzehnten. Könne schon sein, daß die mal einem Wallner gehört habe. Aber sonst?