Wendy ist mit dem roten Leih-Mercedes, A-Klasse, den sie am Bahnhof in Nürnberg zum F-Klasse-Sonderpreis bekommen hat, die gerade Straße des Gewerbeparks entlanggefahren. Süssmayer-Möbel, Van Riet & Co., Kellerer-Küchen, Kellerer-Küchen vielleicht, das Gebäude macht einen guten Eindruck, viele Autos parken davor, Flaggen mit zwei gelben Ks auf blauem Hintergrund wehen am Straßenrand, das Geschäft scheint gut zu gehen. Aber das Gebäude sieht zu neu aus, als daß es von Costins Vater sein könnte; außerdem passen Küchen nicht zu dem Bild, das Costin bei den wenigen Erzählungen aus seiner Kindheit und Jugend von seinem Vater vermittelt hat. Papa Wallner, wie war sein Vorname? Steffen? Stefan Wallner! Genau!: Durchaus ein Mann von Welt, immer beschäftigt, viele Angestellte.
Wendy hat vor dem letzten Firmengebäude in der Straße gehalten. Hinten kommen nach den Wiesen noch einige Grundstücke, die umzäunt oder von dichten Büschen umgeben sind, so daß man nicht hineinsehen kann, Privatgelände wahrscheinlich. Die Straße ist voller Schlaglöcher, wer weiß, ob da überhaupt noch jemand wohnt, alles macht einen recht verwunschenen Eindruck. Es hat zu tröpfeln angefangen. Wendy wird jetzt nicht aussteigen und ohne Schirm zur Firma latschen und fragen, ob das hier mal einem Herrn Wallner gehört habe, und wenn nicht, welche Firma dann, ob man ihr das sagen könne, das muß doch rauszubekommen sein, for Pete’s sake.
„Meinst du, das ist es?“ fragt Wendy das Kommunikationsprogramm des Mercedes, das ihr die Fahrt nach Cham verkürzte.
Aus den Themenbereichen, die zur Auswahl standen, hatte sie sich für Königshäuser im 20. Jahrhundert entschieden. Sie hatte mit dem Programm eine angeregte Diskussion über Lady Di geführt. Das Programm wußte vieles, was Wendy gar nicht klar war.
„Könnte sein, Wendy“, sagt die Frauenstimme des Programms.
Wendy wird zu Hause mal eine Online-Suche machen und sich aus der Stabi ein Buch über Cham ausleihen. Das wird sie machen. Einstweilen genügt es, daß der Heizkessel-König ungefähr der Vorstellung entspricht, die sie sich von Stefan Wallners Unternehmen, Geschäft, Firma, was auch immer, gemacht hatte. Mittelständisch, zwei Flachbauten, neun, zehn, elf Autos auf dem Parkplatz, hoher grüner Metallzaun.
Stefan Wallner wird oft im dunkelblauen Anzug mit einem schwarzen Schirm im Eilschritt von seinem roten Mercedes, D-Klasse, über den Parkplatz zu einem der Gebäude, dem linken, gegangen sein. Stefan Wallner wird oft am Fenster ganz oben links gestanden und auf die Wiesen geschaut haben, auf die der Regen fällt. An Sonntagen wird er nach einem geglückten Deal das Fenster geöffnet und sich eine Zigarre, eine Cohiba — die einzige Marke, die Wendy einfällt — angezündet haben. Er wird viel auf Geschäftsreisen gewesen sein. Zu Hause wird er Mama Wallner und Costin erzählt haben, wo er überall gewesen ist und wohin er seine Heizkessel verkauft hat. England, Irland, Dänemark, Schweden. Er selbst wird einen Heizkessel aus seiner eigenen Firma, die damals noch Heizkessel-Wallner hieß, im Keller stehen gehabt haben.
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Hier wird Costin gesessen haben, denkt Wendy. Sie sitzt auf der Betoneinfassung eines Blumenbeets. Ihr Blick schweift über die mit Stufen verbundenen Plateaus des Schulhofs. Der Schulhof ist wie ausgestorben. Es werden Sommerferien sein. Costin, elf, fünfte Klasse: feste Zahnspange, er öffnet beim Lachen nicht gern den Mund, weil er sich schämt, er wird besonders von jüngeren Lehrerinnen gemocht, die ihn herzig finden, von älteren wird er regelmäßig gerügt, schon zwei Verweise, schwarzer Wuschelkopf, etwas kleiner als die anderen, vorlaut und Klassenclown, bei seinen Mitschülern deshalb beliebt, Bandenführer; nach der sechsten Stunde wartet, wie hieß die noch, Clara? Maria? Elena? wie auch immer: wartet Mama Wallner schon im roten Mercedes, A-Klasse, mit laufendem Motor auf dem Lehrerparkplatz, Costin rennt, wenn die Schule aus ist, die Treppen des Schulhofs herunter, seine viel zu große Schultasche schaukelt dabei auf seinem Rükken wild auf und ab, er begrüßt Mama Wallner mit einem Kuß; Mama Wallner nimmt oft seine Freunde mit, von denen hat er viele, seine Wangen glühen, wenn er noch im Auto zu erzählen anfängt, was heute wieder in der Schule los war, er redet nonstop, er ist sehr lebhaft. Mama Wallner mag das: in den Rückspiegel schauen und ihrem kleinen Buben beim Reden zusehen und ihm nicht zuhören und nur denken: Du kleiner Schabernackl. Sie nennt Costin Schabernackl. Mama Wallner, 35, 40, eine gepflegte Erscheinung, fesch, tiefschwarzes lockiges Haar, dunkler Teint, jung geblieben; als Frau des Firmenbesitzers angesehen und respektiert in der Stadt; trotz der abgelegenen Lage Chams zufrieden wegen des guten Verdienstes ihres Mannes, wandert gern im Bayerischen Wald. Naturverbunden.
Eine der Flügeltüren des Gymnasiums ist aufgegangen, ein Junge, vielleicht 20, ist herausgekommen, schaut kurz zu Wendy herüber, rennt die Treppen herunter zum Parkplatz. Costin, 18, K 12, Leistungskurs Musik und Englisch (geht das überhaupt?), zweimal 15 Punkte, sportlich, gegeltes Haar, Mädchen kuscheln sich bei Klassenfeiern am Lagerfeuer an ihn, er bricht viele Herzen, hat eine eigene Band, mit der er nicht nur in der Schule, sondern auch in Cham und Umgebung schon oft aufgetreten ist; schert sich kaum noch um seine Noten, weil ohnehin klar ist, daß er Popstar wird; alles fliegt ihm zu; sein rotes Motorrad steht auf dem Lehrerparkplatz; der Direktor persönlich hat sein OK dazu gegeben; der notorisch unbeliebte Direktor möchte bei den Schülern dadurch Pluspunkte sammeln. In der Raucherecke am anderen Ende des Schulhofs steht die Splitter-Gothic-Fraktion, die die einzigen an der Schule sind, die Costin nicht leiden können.
Wendy kann sich selber als 15jährige, schwarzer Rock, schwarze Bluse, schwarze Samtjacke, schwarze Springerstiefel, schwarz gefärbtes Haar, schwarzer Nagellack, Zigarette in der Hand, gelangweilter Gesichtsausdruck, bleich, dort drüben in der Ecke am anderen Ende des Schulhofs stehen sehen.
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Aber das ist ja ein Kaff! Nein. Kein Kaff: ein Kaff-Kaff.
Auf der Hinfahrt hatten die Burgruinen hier und da auf den dicht bewaldeten Hügeln Wendy in eine fast feierliche Stimmung versetzt; sie hatte auf ein mittelalterliches Städtchen gehofft; später, von der Umgehungsstraße aus, hatten der Fluß, entlang dessen Windungen die Stadt gebaut war, und die zwiebelförmige Kirchturmspitze, die sich zwischen den roten Dächern erhob, ja eigentlich auch noch recht pittoresk gewirkt.
Jetzt, auf einem Parkplatz auf dem Marktplatz, muß Wendy ihren ersten Eindruck revidieren, der bereits zu bröckeln anfing, nachdem sie durch ein Tor gefahren war, dessen Plakette es als Biertor auswies, und sie die leeren Straßen, die Klitschen überall sah. Es schüttet. Sie hat den Scheibenwischer angestellt. Die Kleider in der Auslage des Geschäfts direkt neben dem Parkplatz sehen wie eine schlechte Kopie jener Mode aus, die man vor drei Jahren in Berlin getragen hat, in der man sich jetzt aber lächerlich machen würde, überall, außer in Cham wahrscheinlich; die Unisexschaufensterpuppen mit ihren nur angedeuteten Gesichtszügen und den Gliedern, die man nicht mal zu bewegen können scheint, wirken wahnsinnig mickrig. Mickrig. That’s the word. Der Marktplatz verschwimmt.
Scheibenwischer.
Zzzk.
Neben dem einzigen Gebäude, das mit seinen Stufengiebeln historisch aussieht, aber mal wieder einen Anstrich gebrauchen könnte, steht ein grauer Betonklotz, auf dem sinnigerweise Frey steht; auf der Straße: kein Kopfsteinpflaster, sondern ein Teerfleckenteppich.
„Ja hat denn hier das Baureferat keinen Sinn für Einheitlichkeit?“ sagt Wendy laut im Auto, dessen Scheiben langsam beschlagen. „Wenigstens der Marktplatz sollte doch ein bisserl repräsentativ sein, für Touristen, hallo? Tourismus? Gibt’s so was hier?“