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Von 8 bis 11: Costin. Wendy hat zwei Alben mit Fotos und Zeitungsausschnitten entdeckt, die alles über Costin bis zu einem mehr als peinlichen Auftritt in einer Show mit dem mehr als peinlichen Titel Almtrieb enthalten, inklusive PingPongs- und Synchronsprecherkarriere. Costin hat Goebbels gesprochen! Costin war ein Flugsaurier! Dann Fotos von Costin als Labelchef mit seinen Künstlern, auf Preisverleihungen, mit Romy, kaum ein privates Foto von Costin, auf dem nicht auch Romy wäre, dafür kaum ein Foto von Costin und Wendy. Wendy kann sich noch genau erinnern, daß Therese einmal an einem Nachmittag sehr viele Fotos von ihr und Papa in der Wohnung und an der Salzach gemacht hat, sie müssen irgendwo sein, wenn es sie nicht in Papierform gibt, dann als File irgendwo. .

Jetzt, auf 12 Uhr, hockt Wendy vor drei Alben, die Ana angelegt haben muß, als sie bereits alt war, eine Art Resümee, von Costins Geburt, der Zeit in Cham und Bukarest. Viele Fotos sind dabei, die Wendy schon von den Fototaschen kennt — hier aber in anderen Versionen, Sekunden später oder früher aufgenommen: Auf allen Fotos lächeln die Abgebildeten, nie gelangweilte oder nachdenkliche Gesichter wie auf den Bildern in den Fototaschen. Sowohl Costin als Baby ganz am Anfang als auch Ana am Ende mit Krücke lachen in die Kamera.

Wendy steht auf, streckt sich und macht „Puh“. Die Hauptarbeit, die vielleicht 20 Videos angucken, kommt noch. Wenn Wendys Annahme zutrifft, daß die Videos ungefähr dieselben Ereignisse wie die Fotos wiedergeben, hat sie so gut wie kein Material von Stefans letzten zehn Jahren. Auch von Costin fehlen ihr so ungefähr zehn Jahre. Die einen Fotos reichen bis zu einem Zeitpunkt, wo er vielleicht 35 ist, energiegeladen, muskulös; auf den anderen ist er dann plötzlich Ende 40, dick, verbraucht.

Costin mit 40 und 41 gibt es nicht.

34

„Von 2041 bis 2056 lebte mein Vater in einer Eigentumswohnung am Mariannenplatz 7, Berlin, Kreuzberg; die meiste Zeit davon zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Musikerin Romy Kraus. Die Beziehung war durchweg von Spannungen geprägt — war Romy Kraus doch fast 25 Jahre jünger als mein Vater. Vielleicht beschreibt der Begriff ‚Zweckgemeinschaft‘ das Verhältnis der beiden besser. Er hat Sex, eine Art Sekretärin, die ihn ständig begleitet, sie hat Vorteile: Partys, Kontakte zur Musikbranche, ihr Foto in Illustrierten. Es ist anzunehmen, daß beide Klarheit über ihre Beziehung besaßen. Von seinen Affären wußte sie aus den Zeitschriften; sie ihrerseits machte keinen Hehl aus den ihrigen.“

Stop mal, denkt Wendy. Ich kann doch das hier jetzt nicht einfach so sagen, Romy Kraus hatte Affären und machte keinen Hehl daraus, wenn ich gar nicht genau weiß, ob das überhaupt stimmt. Der Verdacht liegt natürlich nahe, aber. .

Wendy schaut auf den blinkenden Cursor auf dem Punkt hinter „ihrigen“.

Ach, kann ich sehr wohl, denkt sie. Hat sich Frau Kraus je um mich geschert? Hat sie irgendeine meiner E-Mails beantwortet? Das hier ist jetzt meine Rache.

„Gleichwohl ist es möglich, daß sich mein Vater nur zu gern der Illusion so vieler alternder Männer hingab — der Illusion, von einer ohne Zweifel recht talentierten und gutaussehenden jungen Frau begehrt zu werden. Die Länge der Beziehung — immerhin über zehn Jahre — deutet freilich darauf hin, daß seitens Romy Kraus aus den anfangs höchstwahrscheinlich prätendierten später, wenn schon nicht echte Gefühle, so doch eine gewisse Zuneigung und Respekt wurden. So schrieb Romy Kraus im Sommer 2051, vielleicht nach einer Zeit der Krise, sehr ehrliche und herzliche Briefe aus Rom. ‚Du hast mir unheimlich viel gegeben‘, heißt es darin, und weiter: ‚Ich sehne mich nach Dir, nach Deiner Grummelbaßstimme, die Romylein sagt.‘ Ein halbes Jahr vor seinem Tod wurde mein Vater von Romy Kraus verlassen, was nicht nur seine Situation in der Wohnung massiv erschwerte — er war zu diesem Zeitpunkt, nach einer Thromboseoperation, ein Pflegefall und mußte für die wenigen kurzen Ausflüge im Rollstuhl das Treppenhaus heruntergetragen werden, da das Haus keinen Lift besaß —, sondern sich auch fatal auf seine Psyche auswirkte.“

Wendy steht auf, geht durch den Flur, öffnet und schließt die Wohnungstür hinter sich, steigt die Treppen im Treppenhaus herunter, öffnet und schließt die Haustür hinter sich, die Sonne scheint, Wendy kneift die Augen zusammen, geht in die Bäckerei nebenan, kauft sich eine Nußschnecke, öffnet und schließt die Haustür hinter sich, steigt die Treppen im Treppenhaus hoch, öffnet und schließt die Wohnungstür hinter sich, geht durch den Flur, setzt sich an den Schreibtisch, bewegt die Maus, damit die Aquariumslandschaft auf dem Bildschirm verschwindet, und beißt von der Nußschnecke ab.

„Mehrmals fragt er auf dem Krankenbett nach Romy und verfällt in Apathie, als man ihm sagt, sie habe gerade einen wichtigen Termin, sie komme später. Am 21. Oktober 2056 stirbt mein Vater nicht zuletzt wegen Romy Kraus als gebrochener Mann. Romy Kraus lebt heute in Bremen mit Chris Bräuer zusammen, dem Sänger der Band Puh.“

Wendy schaut auf den blinkenden Cursor auf dem Punkt hinter „zusammen“.

Kann ich sehr wohl, denkt sie.

„Seit einem Autounfall, bei dem Romy Kraus nur leicht verletzt wurde, zieht sich eine Narbe über ihre linke Wange, die ihr vormals so schönes Gesicht entstellt.“

35

„Meine Großmutter Ana Wallner kümmerte sich rührend um ihre Mutter. Zwei Monate lang fuhr sie jeden zweiten Tag von Cham nach München ins Krankenhaus, brachte Kuchen mit, saß am Bett ihrer Mutter, unterhielt sich mit ihr und las ihr aus ihren Lieblingsbüchern vor, Goethe, Fontane, Thomas Mann, den Autoren des Landes, in dem sie doch niemals richtig heimisch geworden war. Auch vergaß sie nie Papier, Bleistift, Pinsel und Wasserfarben: Ihre Mutter hatte im Alter eine Leidenschaft fürs Aquarell entwickelt.“

Wendy löscht den letzten Satz.

„Seit ihrer Pensionierung hatte sich ihre Mutter, die am Gymnasium Kunst unterrichtete, ganz ihrem Hobby zugewandt, dem Aquarellieren. So stand ihre Wohnung in Salzburg“, Wendy löscht „Salzburg“, „München voller Bilder von Bukarest, die sie aus dem Gedächtnis malte, die Straße, in der sie aufgewachsen, die Landschaft vor den Toren der Stadt, wohin sie am Wochenende mit ihren Eltern zum Wandern gefahren war. Das ohnehin gute Verhältnis zwischen meiner Großmutter und ihrer Mutter wurde in dieser Zeit noch enger, so daß aus der an sich traurigen Situation, vor allem auch dank des Umstandes, daß meine Großmutter so relativ nahe bei ihrer Mutter wohnte — was wäre gewesen, hätten sie in anderen Ländern oder auch nur Bundesländern gewohnt? — , etwas Positives erwuchs.“

Wendy sagt: „LÖSCHEN ab ‚erwuchs‘“, „erwuchs“ verschwindet, „Positives“ verschwindet, Satz um Satz, das „h“, das „c“, das „a“, das „N“, der Cursor blinkt auf der leeren weißen Seite.