Выбрать главу

„Meine Großmutter und ihre Mutter hatten ein sehr enges Verhältnis. Meine Großmutter war über die Besuche und Gespräche mit ihrer Mutter wie überhaupt über jede Gelegenheit froh, Cham und die Situation dort für einige Stunden zu vergessen; meine Urgroßmutter war über die Besuche und Gespräche mit meiner Großmutter wie überhaupt über jede Gelegenheit froh, rumänisch und über Rumänien zu sprechen, das sie nicht vergessen konnte.“

36

Während der Drucker läuft, hat Wendy auf dem Bildschirm zu lesen begonnen.

„Vor drei Jahren konnten wir unser 100-jähriges Bestehen feiern: 1953 gründete Karl Lindinger in der damaligen Nachbargemeinde von Cham, Chammünster, eine Reparaturwerkstätte mit einem Ersatzteillager für landwirtschaftliche Geräte.“

Wendy nimmt das Blatt aus dem Drucker, legt sich damit aufs Bett und liest weiter.

„1977 übernahmen Stefan Wallner und Ulrich Wiget die insolvente Firma Lindinger. Unter dem Namen Wallner & Wiget entwickelte sich die Firma für Landmaschinen bald zu einer der erfolgreichsten des Landes. Dem Großprojekt der Wiederbesiedelung Brandenburgs folgten 2011 der Börsengang sowie internationale Aufträge, vorrangig aus Tschechien und Polen. 2014 fusionierte die Firma mit dem Hamburger Unternehmen van Riet. Heute, ein halbes Jahrhundert später, sind Henning jr. und Lars van Riet — die inzwischen dritte Van-Riet-Generation in Cham — stolz, Sie weiterhin beliefern zu dürfen. Bitte denken Sie daran, daß seit der Verlegung unseres Hauptsitzes nach Hamburg unser Standort in Cham vor allem als Ersatzteillager dient. Gerne stehen wir Ihnen bei Problemen mit Ihren Maschinen unter oben angegebener Hotline zur Verfügung. Fordern Sie jetzt auch kostenlos die Broschüre zum Jubiläum, ‚100 Jahre Van Riet‘, an!

Es freuen sich auf Ihren Besuch,

Ihr Henning jr. und Lars van Riet.“

37

„Eine der acht Videokassetten (à 180 Minuten) aus dem Nachlaß meines Vaters enthält einen circa fünfminütigen Film eines Aufenthalts mit meiner Großmutter in Bukarest, circa 1998. Meine Großmutter ist nicht wiederzuerkennen. Statt sich wie auf den Filmen in Cham bei Treffen mit Freunden meines Großvaters still im Hintergrund zu halten, unterhält sie sich blendend beim Mittagessen mit Leuten, bei denen es sich offensichtlich um Verwandte handelt. Sie lacht immer wieder laut auf — ein Lachen, das man sonst nicht von ihr hört — und ist zum Blödeln aufgelegt, zum Beispiel wenn sie sich das Baseballcap meines Vaters umgedreht aufsetzt, zusammen mit ihm damals aktuelle Popsongs singt und dabei wie ein Popstar posiert. In einer Einstellung entdeckt sie, daß mein Vater sie filmt. Sie schürzt ihren Rock, zieht kokett die Schultern hoch und macht Tanzschritte. Zu den Bildern, die Ansichten der Stadt zeigen, ist aus dem Off immer wieder ihre Stimme sowie die meines Vaters zu hören. Ihr Klang bleibt einem noch lange im Ohr, auch nachdem man den Film ausgemacht hat.“

Wendy markiert den letzten Satz und löscht ihn.

„Auch wenn nicht zu verstehen ist, worüber sich die beiden unterhalten — sie sprechen Rumänisch, nur ab und zu rutscht mein Vater, wohl weil er das Wort nicht weiß, ins Deutsche, zum Beispiel ‚Quatsch‘, ‚Pappel‘, ‚Kirchturm‘ und ähnliches —, wird deutlich, daß meine Großmutter meinem Vater die Stadt zeigt. [ Analyse: Mutter-Sohn-Verhältnis!! Mögliche ödipale Beziehung?!]“

Wendy beißt von ihrer Nußschnecke ab.

38

„Und? Was machst du zur Zeit? Woran sitzt du?“

„Ich arbeite noch immer an meinem zweiten Buch.“

„Der Onkel.“

„Der Onkel.“

„Ich dachte, du bist schon fertig damit. Ich dachte, du hast dich für Bremen beworben.“

„Bremen?“

„Dann war das wer anders. Und wie weit bist du mit deinem Onkel?“

„Ja. Ich sitze gerade am Vorwort die Tage.“

Wendy schaut aus dem Fenster, in den vollkommen wolkenlosen dunkelblauen Himmel.

„Wendy? Ich wollte dir noch was sagen. Also, ich wollte dir sagen, daß, wenn irgend etwas ist, daß du dann wirklich jederzeit zu mir kommen kannst. Du kannst vor der Tür mit deinem Zeug stehen, und ich werde da auch gar nicht fragen; daß das von früher vorbei ist, also dessen bin ich mir bewußt. Aber du wirst mir immer, also, nahe sein. Auch wenn wir länger nicht gesprochen haben. Oder du rufst an, solltest du etwas brauchen. Das wollte ich dir nur jetzt noch mal sagen.“

Wendy schaut aus dem Fenster, in den vollkommen wolkenlosen dunkelblauen Himmel. Sie weiß, daß sie jetzt irgendwas sagen muß. Sie denkt, daß es so schön ist, wieder Esthers Stimme zu hören, daß sie Esthers Stimme vermißt hat und daß das gefährlich ist, das zu denken, daß man da sehr schnell rückfällig wird —.

Sie sagt: „Ja.“

39

„Betrachtet man den Lebenslauf meines Vaters, so sticht sein ungebrochener Tatendrang ins Auge. Man könnte geneigt sein, Costin Wallner als manisch zu bezeichnen. Schon als Jugendlicher nahm er regelmäßig Tanz- und Gesangsunterricht — immer mit dem Ziel einer Karriere als Popstar, ein Ziel, das er mit 28 Jahren schließlich als Mitglied der gecasteten Gruppe Die PingPongs erreichte; dem folgten eine Karriere als Synchronsprecher, Auftritte in Reality-Shows, endlich die Gründung eines eigenen Musiklabels, BIBO genannt. Allein aus diesen Fakten wird ein Außenstehender auf den Fleiß, die Disziplin und den starken Willen schließen können, von dem der Alltag meines Vaters bestimmt war. Rufe ich mir die Stunden mit meinem Vater in Erinnerung, der mich auch noch im Alter unermüdlich von Berlin aus in Salzburg besuchte, so gehören sie mit zu den glücklichsten meines Lebens. Und so wie mich die vielen Diskussionen mit ihm bis heute prägen, so hoffe ich, daß seine Musik wie seine Visionen für viele andere auch eine Quelle der Inspiration werden.

Keep groovin‘! (Costin Wallner)“

Wendy fügt unter dem letzten Satz ihre eingescannte eigene Unterschrift ein und speichert das Dokument unter Papa-Homepage-Beitrag-Entwurf.

Wendy sind Zweifel gekommen, ob sie den richtigen Ton getroffen hat. Wenn sie sich in erster Linie an ein jüngeres Publikum wendet, sollte sie das Ganze dann nicht ein bißchen flotter schreiben?

40

„Das silberne Abendkleid, das meine Großmutter auf einem Foto trägt, muß eine besondere Bedeutung für meinen Vater besessen haben: Er hat es zusammen mit abgelegten eigenen Mänteln und Anzügen im Schrank im Kellerabteil aufbewahrt. Das Foto meiner Großmutter in diesem Kleid stellt unter den anderen Bildern eine Ausnahme dar: Auch wenn es sich um eine Pose handeln mag — so sieht meine Großmutter doch, anders als auf den meisten anderen Fotos, glücklich aus: Sie lächelt, ja strahlt. Auf die kulturellen Veranstaltungen einmal im Monat — Theater-, Konzert-, Opernbesuche in Regensburg, manchmal München — freut sie sich schon Wochen im voraus, ja, eigentlich immer schon unmittelbar nach dem jeweils letzten Schlußapplaus, spätestens auf der nächtlichen Heimfahrt, auf der immer sie fährt, während mein Großvater schläft — schließlich müsse er ja am nächsten Tag wieder ins Büro, während sie ‚nur‘ den Haushalt mache. Wenn keine Lichter von Häusern mehr auf den Seiten zu sehen sind, nur noch das Dunkel des Waldes und der Felder, wenn das Ausfahrtsschild kommt und sie den Wagen abbremst, der Gedanke: noch dreieinhalb Wochen!

Immer trägt sie dasselbe Abendkleid, holt es, in eine durchsichtige Plastikfolie gehüllt, aus der Reinigung in Cham und hängt es am Abend vor der Veranstaltung im Schlafzimmer an den Schrank, sieht es an beim Einschlafen. Hat sie es dann einmal angezogen, möchte sie, daß man ein Foto von ihr macht, jedesmal, zur Erinnerung — es gibt viele solcher Fotos, innerhalb eines Zeitraums von vielleicht zehn Jahren aufgenommen und alle nahezu identisch. In der Oper sitzt sie dann die ganze Zeit über aufrecht — im Parkett: Den Gefallen tut mein Großvater ihr; immer gute Plätze‚ da, wo man gut sieht, was auf der Bühne passiert. Die Musik kennt sie auswendig, viele Gesamtaufnahmen hat sie, die sie zu Hause beim Kochen und Bügeln hört. Den Text der Liebesschmerz-, Racheschwur-, Verzweiflungsarien der Protagonisten, der Duette mit egoistischen Edelmännern und mittellosen Künstlern. Sie mag Tragödien: Madame Butterfly, La Bohème, auch Rigoletto und Don Giovanni. Jedesmal kauft sie sich ein Programmheft; unter den Sängerinnen hat sie ihre Lieblinge. Kommt zufällig ein Bericht über eine Premiere in ihrem kleinen Schwarzweißfernseher über der Mikrowelle, steht sie dann vor ihren Gesichtern, ganz nah, zu Hause in der Küche, die Arbeit, mit der sie gerade beschäftigt war, die Kartoffel in der linken, den Schäler in der rechten Hand, hat sie für Momente vergessen. Um den Film mit den Aufnahmen von sich im Abendkleid möglichst bald zum Entwickeln geben zu können, sieht sie zu, daß er voll wird — verschwenden möchte sie auch nichts. So macht sie Fotos vom Garten, von den Zimmern im Haus. Man solle später wissen, wie das ausgesehen hat, sagt sie als Rechtfertigung, als sie mein Großvater fragt, warum sie denn Bilder mache, wo nichts drauf sei. In der Woche nach der Veranstaltung hält sie beim Einkaufen am Vormittag am Marktplatz, bringt den Film ins Fotostudio, das zusammengelegte Abendkleid in die Reinigung.“