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Sie bekommt, als sie sich unter der Dusche mit dem Gel einschmiert, ihre Oberarme, ihre Brüste, zwischen ihren Beinen, plötzlich Lust zu masturbieren, sie steckt sich den Zeige- und Mittelfinger in die Scheide, plötzlich klopft es. Tina fragt: „Wendy?“

Wendy ruft: „Ich dusche gerade,“ und ihr fällt ein, daß ja gar nicht abgesperrt ist, und sie singt was, damit Tina nicht etwa auf den Gedanken kommt, daß sie, Wendy, hier gerade masturbiert, daß sie so ein armes Schwein sei und das nötig habe, „Lalala“, und sie reibt und greift noch zusätzlich an den Nippel ihres rechten Busens, und sie hört, wie Tina bei offener Tür telefoniert, laut, was sie sagt, ist unter dem pritschelnden Wasser nicht zu verstehen, und Wendy muß daran denken, wie sie zu Hause, in Salzburg, zum ersten Mal — wann war das? — mit 12, 13 unter der Dusche masturbierte und wie sie gar nicht gewußt hatte, was damals mit ihr geschah, und, als sie die Mama klopfen hörte, zu singen begonnen hatte, „Lalala“, und sie muß an die grünen Kacheln in der Dusche in der Wohnung in Salzburg denken, als sie kommt.

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„Mein Urgroßvater, Günter Wallner, konnte auf eine erfolgreiche, wenn auch an äußeren Höhepunkten arme Karriere als Rechtsanwalt in Köln zurückblicken, als er zusammen mit meiner Urgroßmutter, der fast zehn Jahre jüngeren Renate Wallner, vor die Tore der Stadt, nach Bergisch-Gladbach, in ein Haus mit großem Garten zog, um seine Rente anzutreten und nun endlich dem ein oder anderen Hobby, insbesondere dem Wandern, mehr Zeit zu widmen. Wie freuten sich meine Urgroßeltern, wenn ihr Sohn mit seiner Frau und ihrem ersten Enkelsohn, dem kleinen Costin, aus der fernen Oberpfalz auf Besuch kamen. Erfüllt war das Haus dann von einer hellen Kinderstimme; und meine Urgroßmutter sorgte stets dafür, daß genügend Bausteine, später Spielzeugautos und — traktoren in einer Truhe im Gästezimmer vorhanden waren, damit dem kleinen Costin auch nicht langweilig wurde.

Ein Geheimnis freilich sollte mein Urgroßvater haben: Seit der Hochzeit, damals in Regensburg, und über die Jahre, bei gemeinsamen Ausflügen im Bayerischen Wald, und jetzt, in den Nächten, in denen er im Doppelbett neben meiner Urgroßmutter die Stimmen des jüngeren Paares gedämpft durch die Wand hören konnte, während des sonnenbeschienenen Frühstücks auf der Terrasse und der Jause zwischen blühenden Apfelbäumen hielt er stets die Gefühle für seine Schwiegertochter zurück, ja, machte manchmal einen derart unverbindlichen Eindruck, daß meine Großmutter einmal zu ihm trat und fragte: ‚Sag, bist du mir bös, Papa?‘ Sie nannte meinen Urgroßvater auf seine eigene Bitte hin ‚Papa‘. Seine Gedanken mochte er vor allen anderen verbergen können, seinen alten Freunden, sogar seiner Frau — seinem Sohn entgingen sie nicht. Waren da nicht zu lange Umarmungen bei den Begrüßungen gewesen? Nicht Telefonate, bei denen sein Vater ihm auftrug, auch ja Grüße an seine ‚liebe Frau‘ auszurichten? Der wie zum Spaß um die Hüfte seiner Frau gelegte Arm des Vaters? Der auf dem Gesicht seiner Frau lastende Blick des Vaters? Und wie scherzte doch in der Gegenwart Anas der Vater, der sonst nie zu Scherzen aufgelegt war, und machte Witze, er, der früher auf die Bitte seines Sohnes hin immer behauptet hatte, er kenne gar keine.

Und so, ohne daß mein Großvater meinen Urgroßvater auch nur einmal darauf angesprochen hätte und sich mein Urgroßvater vor meinem Großvater verteidigen hätte können, ja, auch ohne daß sich mein Urgroßvater jemals meiner Großmutter tatsächlich erklärt hätte, erhielten meine Urgroßeltern keinen Besuch mehr aus der Oberpfalz, zu Festen lediglich förmliche, gleichwohl immer noch freundliche Glückwünsche oder Anrufe, und auf die Frage hin, was denn nur sei, ausweichende Antworten, es gäbe viel zu tun in der Firma, man expandiere jetzt, die Reise sei so weit, nein, ein Besuch in Cham sei Ana, die ja dann alles herrichten müsse, nicht zuzumuten, man komme schon einmal wieder, wenn es besser gehe. Und meine Großmutter spielte mit — log am Telefon auf die Bitte oder besser: Order meines Großvaters hin; nein, es sei wirklich schlecht dieses Jahr, und nahm das leise Vibrato in der Stimme meines Urgroßvaters als Beweis dafür, daß mein Großvater recht gehabt hatte, als er ihr an einem Abend von seiner zunächst kaum zu glaubenden Vermutung erzählte und aus der Vermutung beim gemeinsamen Sich-Erinnern an zurückliegende Episoden eine Gewißheit wurde und aus der Gewißheit der gemeinsam gefaßte Entschluß, daß zwar mein Großvater noch ab und zu mit Costin nach Bergisch-Gladbach fahren würde, ‚wenn es sich ausgehe‘ (es ging sich dann immer seltener aus) — allerdings vorerst, ja, ‚vorerst‘ ohne meine Großmutter, für die Entschuldigungen erfunden wurden, ‚unpäßlich‘, ‚auf Geschäftsreise‘, ‚Grippe‘. Manchmal freilich, da lag meine Großmutter nachts wach oder hielt mein Großvater in der Arbeit inne, und sie dachten, man solle sich vielleicht doch einmal aussprechen, vielleicht hatte man ja übertrieben, meine Urgroßmutter kränke sich doch so, dann sei es aus der Welt, man sei ja schließlich vernünftig.

Aber als dann tatsächlich einmal meine Großmutter, von solchen Gedanken geplagt, die Nummer meiner Urgroßeltern wählte, entgegnete ihr, noch ehe sie ihr Anliegen vortragen konnte, die kühle Stimme meines Urgroßvaters, Renate und er seien gerade sehr beschäftigt, man habe keine Zeit, ob sie es später noch einmal versuchen könne, danke, und es war ihr, als hörte sie aus dem Telefon die Stimme meines Großvaters, als er meine Urgroßeltern immer wieder aufs neue auf ein Später vertröstete.

Um so schwerer traf es dann meine Großeltern, als eines Morgens meine Großmutter ans Telefon ging und sie aus dem Schluchzen meiner Urgroßmutter nur Bruchstücke verstand, etwas von ‚Zugunglück‘ und ‚Rückfahrt von einem Freund in Essen‘, und ‚Papa tot‘, ‚ist tot‘.“

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Da ist es. Auf dem Bildschirm steht Willkommen. Kleiner, weiß auf schwarz, darunter Im Andenken an das Unglück des ICEs Heinrich Heine. Das letzte Update liegt schon über 20 Jahre zurück. Der Betreiber der Seite, ein Hinterbliebener vielleicht, muß sie vergessen haben, vielleicht ist er gestorben, hat die Domain im voraus oder vielleicht per Dauerauftrag bezahlt.

Sie sagt: „ARCHIV“, dann „ZEITUNG“.

„Gestern kam es auf der Strecke Essen — Köln zu einem schweren Zugunglück. Aus bisher noch ungeklärten Gründen entgleiste um 9:37 Uhr der ICE Heinrich Heine auf offener Strecke. Dabei starben nach Polizeiangaben 20 Passagiere, über 65 wurden verletzt.“

Sie sagt: „FERNSEHEN.“

Der Nachrichtensprecher, der eine gelbe Krawatte mit roten Punkten trägt, schaut in sein Skript und liest mit monotoner Stimme vor, daß sich heute vormittag ein schweres ICE-Unglück auf der Strecke Essen — Köln ereignet habe.

Sie sagt: „STOP.“

Das kann sie alles nicht brauchen. Infos schön und gut. Aber zu abstrakt. Sie will wissen, wie das für die war, die dabei waren, die drinnen saßen. Was hat Günter Wallner gesehen, was gehört?

Sie sagt: „AUGENZEUGEN.“

Eine Frau, ungefähr ihr Alter, sagt mit rheinischem Akzent: „Ja, wir saßen da, ich am Fenster, mein Mann neben mir, und plötzlich tuts einen Rumms, und ich schlag so zack mit der Stirn jejen den Sitz vor mir, ja und seh noch so, wie mein Mann, also wies den so nach vorne zieht, und ich denke noch, dat is jetzt dat Ende, jetzt isset vorbei mit mir und seh so mein janzet Leben, wie et abläuft, also wie son Film im Kopf, ja und dann bin ich wech und aufjewacht bin ich dann erst wieder in som Zelt, von der Rettung, auf der Wiese und dat erste, was ich die Dame da, die Dame von der Rettung frage, is, wo is mein Dieter, wat hamse mit meinem Dieter jemacht, und da seh ich, dat mein Mann gleich neben mir liegt. Janun. Wie durchn Wunder is dem fast nix passiert. Paar Prellungen und dat Bein jebrochen. Dat war alles.“