Wendy sagt: „Na is ja jut, jute Frau. Und wie wars denn nun wirklich?“ Sie klickt den File an, den sie sich heute vormittag aus dem Internet geladen hat, einen uralten TV-Zweiteiler, ICE Heinrich Heine.
Sie läßt den Film mit vierfacher Geschwindigkeit vorlaufen, die Credits tauchen unlesbar auf der Plasma-Wand auf, dazu Streichermusik, bei normaler Geschwindigkeit wohl ziemlich tief, unheilvoll-grollend, jetzt die ein oder andere Oktave höher, munter-pfiffig. Ein älterer Mann erscheint, grauer Bart, graues Haar, der im Zug am Fenster sitzt und Zeitung liest.
Wendy sagt: „PLAY.“
Na endlich! Das kann sie gebrauchen. Wenn das gut ist, was jetzt kommt, kann sie daraus vielleicht eine Szene für den Text machen, bei der sie dann später, wenn das ganze Buch fertig ist, schauen wird, wohin sie paßt und ob das alles nicht eher in die fiktionale Richtung geht.
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„Vor ein paar Momenten noch hat der gleißende Rand der Sonne das Meer zartrosa gefärbt. Jetzt ist sie vollkommen untergegangen, das Wasser grau. Eine Brise ist aufgekommen. Auf Wallners nacktem Oberarm hat sich eine Gänsehaut gebildet. Von der Garage hört er Ana, den grünen VW, den sie gleich nach ihrer Landung in Lissabon bei einem Verleih am Flughafen gemietet haben. Wallner klappt den Krimi zu, den er auf der Terrasse im Licht der Öllampe auf dem Tisch gelesen hat, steht auf und schiebt die Glastür zum Wohnzimmer auf. Nachdem Ana zwei Ferienhäuser ausgewählt hatte, die für den Urlaub im Mai in Frage kamen, und sie zusammen mit Wallner durch beide Gebäude einen virtuellen Rundgang gemacht hatte — mit einem Click die Türen öffnen, sich ruckartig durch die Zimmer bewegen, vom Wohnzimmer aus durch die Glasfront auf den Sonnenuntergang, das zartrosa gefärbte Meer sehen —, haben sie sich gegen das Haus in Spanien und für jenes in Portugal entschieden, obwohl beide vom Preis und vom Aussehen her nahezu identisch waren; lediglich die Verkehrsanbindung wäre in Spanien schlechter gewesen.
Weil sie beide vom Tag am Meer müde waren und erst am späteren Nachmittag entdeckten, daß sie keine ausreichenden Vorräte für das Abendessen hatten, war Ana ins nächstgelegene Dorf zu der Kneipe gefahren, wo sie schon am ersten Tag mittaggegessen hatten und der Gastraum gleichzeitig auch das Wohnzimmer der Familie zu sein schien, die die Kneipe betrieb: An den Wänden hatten Familienbilder gehangen, der Besitzer hatte im Unterhemd ferngesehen, seine Kinder hatten auf dem Schoß der Besucher gesessen, die, wie der Vater, stumm, die Telenovela im Fernsehen verfolgten.
Ana hat Fisch und Pommes frites mitgebracht; außerdem eine englische Zeitung von vorgestern, die auf der Titelseite von einem Giftgasanschlag in der U-Bahn Tokios nach dem Muster des Anschlags dieser Sekte vor einigen Jahrzehnten berichtet. Die Meldung mußte kurz vor Redaktionsschluß hereingekommen sein, denn es waren lediglich Spekulationen über die Drahtzieher, über den Tathergang und die Zahl der Toten oder Verletzten zu lesen. Neben dem Artikel ist ein Foto zweier Männer, Asiaten, in weißen Hemden und Anzughosen, abgebildet. Beide kommen gerade, wohl der Katastrophe entronnen, die Treppe eines vor Qualm kaum auszumachenden Eingangs einer U-Bahn-Station hinaufgelaufen.
Nachdem Wallner die Essensreste in den Abfalleimer gekippt hat, bittet er Ana nachzusehen, ob der Sonnenbrand, den er sich am zweiten Tag ihres Aufenthalts am Rücken geholt hatte, besser geworden sei. Am Strand legt sich Wallner, immer wenn er im noch kühlen Wasser geschwommen ist, zum Aufwärmen in die Sonne, schwimmt wieder, legt sich wieder in die Sonne und so weiter. Sitzt Ana nicht unter dem Sonnenschirm und liest, geht sie am Strand spazieren. Sie erzählt dann Wallner, was sie gesehen hat, von dem zugesperrten Fischerschuppen, der angespülten toten Möwe und so weiter.
Wallner zieht sein T-Shirt aus. Daraus, daß seine Haut dabei etwas brennt, schließt er, daß sein Rücken gerötet sein muß. Ana hat die Deckenlampe angeschaltet und gesagt: ‚Dein Rücken ist ja ganz braun.‘
Dann hat sie ein aus Cham mitgenommenes Gel auf Stefan Wallners Rücken aufgetragen. Auch das hat gebrannt.
Wallner ist ins Badezimmer gegangen. Ana und er hatten ihre Zahnpasta zu Hause vergessen. Aber als sie hier, im Ferienhaus, ankamen und das Schränkchen im Badezimmer öffneten, hatte darin, wohl noch von ihren Vorgängern, dieselbe Tube gestanden, die sie selbst zu Hause immer benutzten — und nicht nur die. Auch genau derselbe schwarze Kamm und blaue Fön mit dem Schriftzug Anja, die Wallner besaß, hatten in dem Fach gelegen. Ana hatte gelacht und ‚ist ja lustig‘ oder ‚gibt’s ja nicht‘ gesagt; Wallner jedoch, der den Kamm und Fön im Schränkchen nicht anrührte, damit er sie nicht mit seinen eigenen Sachen verwechselte, hatte seitdem ein merkwürdiges Gefühl gehabt.
Wallner will nach seinem Kamm greifen und hält inne. Er muß aus einer Unachtsamkeit heraus den Kamm neben jenen, den sein Vorgänger vergessen hatte, gelegt haben. Nun ist es passiert: Es ist nicht mehr auszumachen, welcher Kamm welcher ist. Wallner entscheidet sich für den linken. Beim Kämmen hat er das Gefühl, er frisiere einen fremden Kopf.“
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Und sie denkt, daß sie das hier gerade eigentlich nicht tun sollte, weil Esther gleich zu hoffen beginnen wird, daß es vielleicht doch eine Möglichkeit gäbe, daß sie wieder zusammenkämen, und sie überlegt, ob sie nicht vielleicht schnell wieder die Treppe runterlaufen und so tun sollte, als hätte irgend jemand nur aus Versehen die Klingel gedrückt, und dann denkt sie wieder, daß sie im Moment nichts mehr braucht als eine Umarmung von jemandem, der sie kennt, egal, ob der- oder diejenige sie wirklich liebhat und trösten möchte und zu ihr hält oder einfach so tut und das heuchelt, einfach eine Umarmung, damit sie jemanden hat, an den sie sich nach dem Chaos der letzten Wochen und in ihrer Unsicherheit und ihrer Angst, wie es bloß mit ihr weitergehen soll, festhalten kann, und da steht Esther in der Tür, und Esther umarmt sie, hat gleich gemerkt, was los ist, flüstert: „Ist ja gut“ und hält sie und wiegt sie hin und her, und Wendy weint an ihrer Schulter und spürt, wie Esthers Bluse ganz naß wird.
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„Günter Wallner wird wie die anderen Insassen des ICEs nach vorne geschleudert.“
Wendy markiert den Satz und sagt: „LÖSCHEN.“
„Mit einem Ruck wird Günter Wallner aus seinem Sitz gehoben.“
Wendy markiert den Satz und sagt: „LÖSCHEN.“
„Aus den Gepäckfächern wirbeln die Reisetaschen. Günter Wallner reißt die Arme vors Gesicht.“
Wendy markiert den Satz und sagt laut, viel lauter, als es nötig wäre: „LÖSCHEN.“
Sie reibt sich die Augen, die von den letzten zwei Stunden vor dem Computer schmerzen.
Wenn Wendy etwas aus ihren letzten Schreibversuchen gelernt hat, dann ist es, daß sie sich selber nicht unter Druck setzen darf, sonst ist das Ergebnis nur wieder diese peinliche Rollenprosa. Aber sie weiß ja jetzt, was und wie sie schreiben möchte, die letzte Passage über den Urlaub ihrer Großeltern war ja gar nicht so schlecht. Sie macht jetzt vielleicht noch zehn Minuten, und dann ist Schluß für heute. Morgen ist ja auch noch ein Tag.