Wiget ist vorhin hereingekommen, hat gesehen, daß Wallner, der kurz den Kopf gehoben hat, die Unterlagen für das Projekt Brandenburg studiert, und hat sich hinter ihn gestellt, wahrscheinlich, um mitzulesen. Er legt die Hand auf Wallners Rücken, genau zwischen die Schulterblätter. Schon seit dem Beginn ihrer Freundschaft macht Wiget diese Geste. Die Geste bedeutet Zuspruch.
Zum ersten Mal legte Wiget ihm damals, erinnert sich Wallner, im Wohnheim in Regensburg die Hand auf die Schulter, in der Stockwerkküche, nachts, als Wallner sich allein zugesoffen hatte und Wiget plötzlich auftauchte. Wallner hatte vor sich hin gelallt, er scheiße auf die ZVS, er scheiße auf Regensburg, er scheiße auf BWL, er scheiße auf seinen Alten — in diesem Moment hatte Wiget gefragt, wie lange er schon hier im Wohnheim sei, er habe ihn ja noch nie gesehen, er komme wohl nicht aus Regensburg, er, Wiget, sei ja auch nicht von hier, er komme ursprünglich aus Cham, ob er Cham kenne, in der Oberpfalz, ihm gehe es also genauso.
Warum hatte Wiget ihm eigentlich die Hand auf die Schulter gelegt? Wallner glaubt jetzt, er, also Wallner, habe damals zu flennen angefangen. Vielleicht hatte ihre erste Annäherung auch erst später stattgefunden, beim Wohnheimfasching, als er, als Scheich oder Pirat verkleidet, an der Wand im von Stroboblitzen erhellten Atrium lehnte und er Wiget wegen der lauten Musik und dem Johlen der Gäste ins Ohr brüllte, die Neue im Wohnheim, die Rumänin, sei in diesem Moment in seinem Zimmer, in seinem Bett, wenn Wiget es genau wissen wolle, er, Wallner, hätte sie eben gefickt — gefickt, habe er verstanden?
Wiget sagt, er werde noch eine halbe Stunde machen und dann gehen und sich die Akten heute abend zu Hause vornehmen. Er bleibt vor der Tür zum Sekretariat stehen. Er habe ein gutes Gefühl.
Wallner sagt, sie sollten sich morgen noch einmal zusammensetzen, um genau zu besprechen, wer von ihnen was bei der Konferenz sagt.
25
Das Auto der Familie ist von hoch oben aufgenommen, von einem Hubschrauber aus. Das Auto fährt die Windungen einer Gebirgsstraße entlang. Die Hänge der Berge sind überwiegend unbewaldet und von hellgrünem Gras bewachsen. Eine Synthesizer-Melodie setzt ein, die das Dies-Irae-Motiv variiert.
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Er schließt die Haustür hinter sich. Man müßte noch einmal überlegen, ob man nicht doch einen zusätzlichen Vertreter für Tschechien braucht. Wallner ist durch den Flur gegangen und hat plötzlich bemerkt, daß er seine Straßenschuhe angelassen hat. Ana hat ihn gebeten, immer die Straßenschuhe auszuziehen, wenn es geregnet hat. Der Boden wird sonst so dreckig, und sie ist dann jeden Tag am Putzen.
Die Eßzimmertür ist angelehnt. Dahinter hat Ana etwas auf rumänisch, dann auf deutsch gesagt. Wallner hat „Verkauf der Firma“ und „Entmündigungsverfahren“ herausgehört.
Costin lacht laut und erwidert: „Ja, aber das spannt der Tata ja nie.“
Auch Ana lacht, als Wallner ins Eßzimmer tritt. Sie blickt ihn überrascht an.
Costin sagt: „Servus, Tata. Wir haben gerade darüber geredet, wie du und Mama euch kennengelernt habt.“
Wallner sagt: „Ihr habt nicht gerade darüber geredet, wie Mama und ich uns kennengelernt haben.“
Costin sagt: „Doch. Wir haben gerade darüber geredet, wie ihr euch kennengelernt habt.“
Wallner sagt lauter, als er eigentlich wollte, er schreit ja fast, denkt er, als er die ersten Wörter spricht: „Ihr habt nicht gerade darüber geredet, wie Mama und ich uns kennengelernt haben.“
Er schaut in die erschreckten Gesichter Costins und Anas.
27
Da steht Witte im Blaumann vor seinem roten Golf.
Wallner ruft: „Einen schönen Abend noch“ und winkt.
Als Wallner und Wiget die insolvente Firma von Karl Lindinger kauften, übernahmen sie die meisten der damaligen Beschäftigten, zu denen auch Witte gehörte. Wallner und Wiget haben durch diesen Kauf die Jobs von 83 Beschäftigten gerettet. Seit Wallner Witte zum Chefmonteur befördert hat, ist Witte seine Kontaktperson zu den anderen Monteuren. Witte sagt Wallner, was man in der Halle so erzählt. Ab und zu, vielleicht einmal alle zwei Monate, laden die Wittes Wallner und Ana zum Essen zu sich ein. Frau Witte bäckt ihr eigenes Brot.
Da ist Frau Beck. Sie stöckelt zu ihrem silbernen Ford in der mittleren Reihe auf dem Parkplatz. Frau Beck hat kurz in Richtung Wallner und Ana gelächelt und sich eine Strähne aus der Stirn gestrichen. Wallner hat zurückgelächelt.
Fakt ist, daß Wallner ihr und ihrem Mann damals geholfen hat, eine größere Wohnung zu finden. Fakt ist auch, daß Wallner und Ana als eine Art Revanche bei Frau Becks Hochzeit eingeladen waren, von der ein Foto existiert, das Wallner, Ana und das Brautpaar zeigt und das in der letzten Reihe von Fotos auf der Kommode im Wallnerschen Wohnzimmer steht. Fakt ist weiter, daß Wallner Herrn Beck eine Stelle im Lager beschafft hat, obwohl es bessere Bewerber gegeben hätte. Fakt ist schließlich, daß Wallner der Taufpate von Justin Beck, dem Sohn der Becks, geworden ist.
Wallner und Ana steigen in ihren hellroten Volvo, Ana fährt. Da ist Breitenbacher. Er kommt aus dem Pförtnerhäuschen, klappt die Schranke hoch, als er den Volvo anfahren sieht. Wallner winkt Breitenbacher aus dem Fenster.
Breitenbacher fährt jedes Jahr mit seiner Frau Yvonne oder Petra Breitenbacher, Wallner weiß nicht mehr genau, wie sie heißt, im Sommer nach Spanien, von wo sie Wallner immer eine stark riechende Peperoni-Salami mitbringen.
Wallner fragt Ana, ob sie die 31 wolle. Ana nickt. Er ruft auf dem Handy beim Chinesen an, er bestellt einmal die 30 und einmal die 31. Am Marktplatz vor dem Restaurant ist Ana ausgestiegen und das Essen holen gegangen, Wallner wartet im Auto, er will es nicht riskieren, den Humpfmüller oder Schwaiger zu treffen, die sich, glaubt er, gerade in der Stadtratssitzung im Rathaus gegenüber befinden.
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Ana biegt in das Wohngebiet ein. Als sie von Regensburg nach Cham gezogen waren, war das Wohngebiet im Stadtteil Siechen ein Neubaugebiet, von dem nur ein Schachbrett aus geteerten Straßen um leere Quadrate existierte, hier und da Gruben, Rohbauten, erst zwei fertige Häuser, eines davon ihres. Costin hatte den Ausschlag gegeben, hier und nicht etwa neben dem Gewerbepark und der Firma, in Chammünster, zu bauen. Zwar hatte Costin noch gar nicht existiert; ein Kind war zum Zeitpunkt des Umzugs aber Teil der Planung gewesen, das Neubaugebiet würde eine familienfreundliche Umgebung sein; Wallners und Anas Tochter, Johanna (Wallners Wunsch), oder Sohn, Costin (Anas Wunsch), würde nicht nur sicher in einer Tempo-30-Zone aufwachsen und durch die anderen Kinder des Gebiets, die hier einmal wohnen würden, schnell Gesellschaft haben, sondern sie/er hätte es auch nicht weit zum Kindergarten, zur Grundschule und später zum Gymnasium, sie/er würde aufs Gymnasium gehen.