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Nächstes Jahr macht Costin Abitur, das er bestehen wird. Costin wird als zu berücksichtigender Faktor wegfallen. Es wäre möglich, ein Haus neben der Firma in Chammünster zu bauen, vielleicht sogar in derselben Straße, der Pappelallee, in der die Villa der Wigets steht.

Wallner und Ana steigen aus. In den Fenstern der anderen Häuser brennt Licht, Wallner kann die Umrisse von Frauen ausmachen, die vom Abendessenkochen gerade einen kurzen Blick nach draußen werfen, ihn beobachten, von den Rentnern, immer diese Rentner überall, einen sieht Wallner jeden Sonntagnachmittag auf dem mit Topfpflanzen zugestellten Balkon schräg gegenüber, natürlich ideal, um sich ein wenig zu verstecken.

In der Diele öffnet Wallner den Knopf seiner Anzughose und bückt sich, um sie auszuziehen. Aus dem Wohnzimmer sind Stimmen zu hören. Er knöpft sich schnell die Hose wieder zu. Irgendwer hat zu singen angefangen.

Als Wallner durch die angelehnte Wohnzimmertür tritt, hat Costin, in der Mitte des Zimmers, getanzt, dabei gesungen, auf dem Sofa haben ihm zwei Jungen zugeschaut, seine Freunde aus der Schule, der mit den ausgebeulten Hip-Hop-Hosen heißt Markus oder Marco, der andere, der Untersetzte mit dem Mecki, hat diesen Namen, bei dem Wallner zuerst dachte, er sei ursprünglich griechisch oder spanisch, bevor er von Ana erfuhr, daß Quirin eigentlich altbayerisch sei. Aus den Styroporschachteln auf dem Wohnzimmertisch riecht es nach indischem Essen, daneben stapeln sich Comic-Hefte.

Bevor er mit dem Singen und später mit dem Tanzen anfing, hatte Costin exzessiv Comics gesammelt, im Urlaub hatte seine Lektüre ausschließlich aus irgendwelchen Heften bestanden, im Haus hatten sie haufenweise herumgelegen, auf dem Fußboden, den Stühlen, dem Sofa, oft zerfledderte und vergilbte Dinger, die aussahen, als wären sie noch vor Costins Geburt erschienen. Costin und seine Freunde saßen auf der Terrasse oder, wie jetzt, im Wohnzimmer zusammen, hatten Hefte getauscht, ja ver- und gekauft. Die hatten ein regelrechtes Geschäft am Laufen.

Quirin und der andere Junge haben es nach der Begrüßung sichtlich eilig zu gehen. Als sich die beiden verabschieden, sagt Costin, er komme gleich nach, sie sollen beim Auto auf ihn warten, woraufhin sie irgend etwas erwidert haben, schnell, lachend, irgend etwas, was Wallner nicht verstanden hat. Costin hat offenbar seinen Freunden seine neueste Einstudierung vorgeführt. Es drängen sich in diesem Moment Fragen auf. Ist es möglich, daß Costin tagsüber, wenn Wallner und Ana nicht zu Hause sind, in seinem Zimmer, in dem, fällt Wallner ein, er, Wallner, schon lange nicht mehr war, den gerade hier anwesenden Schulfreunden nicht nur etwas vortanzt, sondern sich mit ihnen auch auf eine nicht mehr gänzlich harmlose Art und Weise vergnügt? Wobei statt Schulfreunden auch Schulfreundinnen denkbar wären, Ana hatte einmal etwas von einer Christina erzählt, mit der Costin gehe. Gäbe es Wege, Costins bi- oder heterosexuellen Abenteuern nachzugehen?

Costin sagt, er müsse jetzt los. Er küßt Ana, dann Wallner, links, rechts, auf die Wangen. Anas Eltern haben Ana und Costin — nicht Wallner — zur Begrüßung und Verabschiedung immer auf die Wangen geküßt. Ungefähr seit Anas Vater vor vier Jahren gestorben ist, hat Costin begonnen, nicht nur Ana, Wallner und seine Großmutter vor allem beim Verabschieden auf die Wangen zu küssen, sondern auch seine Freunde beziehungsweise Freundinnen in der Schule, Wallner hat es bei Costins letztem Geburtstagsfest gesehen, das er zu Hause feierte.

Costin fragt Ana: „Cum ţi-a fost ziua?“

Ana antwortet ihm auf rumänisch.

Ana ist zwar in München geboren, spricht aber in ihrer Familie, das heißt mit Elena, ihrer Mutter in Regensburg, deren Freunden in der rumänischen Gemeinde und mit ihren Verwandten, die sie seit 1990 in Bukarest ab und zu besucht, rumänisch, mit allen anderen, das heißt auch Wallner, deutsch. Während Wallner in den ersten Jahren seiner Beziehung mit Ana einige Phrasen auf rumänisch gelernt hat, „Wie geht es dir“, „Ich liebe dich“, „Ich vermisse dich“, hat Ana Costin, als er noch ein Baby war, zuerst Rumänisch und dann erst Deutsch beigebracht. Später ist er nur ungern allein mit seinen Großeltern, die nur schlecht Deutsch konnten, zusammengewesen, weil sie sich mit ihm ausschließlich auf rumänisch unterhielten. Inzwischen meldet sich Costin, dessen Oberpfälzer Dialekt nicht so stark ist wie der seiner Freunde am Gymnasium, wenn ihm seine Mutter den Telefonhörer reicht und sagt, es sei seine Großmutter, von selbst mit „Bună?“

Als die Haustür zufällt, öffnet Wallner den Knopf seiner Anzughose und zieht sie aus. Er setzt sich in den Shorts aufs Sofa und hört Ana aus der Küche, das Knistern der Plastiktüten mit dem chinesischen Essen.

29

Er schaut zu Wiget und wartet darauf, daß er sich zu ihm dreht. Wiget rückt das Mikrofon des Headsets vor seinem Mund zurecht, räuspert sich mehrmals und schaut auf den Bildschirm, auf dem jetzt die letzten Sekunden des kurzen Demos der Firma laufen.

Wallner würde gern, bevor auf dem Bildschirm wieder der Konferenztisch in Berlin mit den Vertretern des Landwirtschaftsministeriums von Brandenburg erscheint und sein eigenes und Wigets Bild von der Kamera auf dem Stativ vor dem Bildschirm am Ende des Konferenztisches nach Berlin übertragen wird, einen Blick der Bestätigung austauschen. Seit Beginn der Präsentation hatte Wallner den Konferenzraum um sich herum vergessen.

Er achtete darauf, durch die Gestik des Teils seines Oberkörpers (Schultern, Arme mit Händen), der von der Kamera gefilmt wird, sowie durch seine Mimik einen glaubwürdigen und selbstbewußten Eindruck auf die Vertreter in Berlin zu machen. Den Text, mit dem er die eingestreuten Power-Point-Statistiken zur Bilanz, Entwicklung und Kapazität der Firma erläuterte, hat er inklusive Intonation auswendig gelernt.

Im Konferenzzimmer riecht es vom Holzpflegemittel stark nach Zitrone.

Wallner nimmt an, daß die Vertreter das Demo zurückgelehnt in ihren Stühlen mit verschränkten Armen verfolgen, erste Wertungen und Eindrücke werden sie durch Blicke austauschen, die Mikrofone haben sie nicht ausgeschaltet: Ab und zu ist über der Tonspur des Films ein Husten, ein Flüstern und Räuspern in Wallners Kopfhörern zu hören.

Jetzt kommt gleich der Fragenteil. Der Fragenteil ist entscheidend.

Wallner und Wiget besprachen die letzten Tage, welche Fragen wahrscheinlich gestellt werden würden. Sie machten zwei Probepräsentationen. Einmal übernahm Wallner die Rolle der Vertreter und stellte Wiget Fragen, einmal umgekehrt.

Auf dem Bildschirm sind die Vertreter zurückgelehnt am Konferenztisch mit verschränkten Armen in ihren Sesseln erschienen. Herr Busmann, links am Tisch, der Vorsitzende des Bauernverbands, hat das Mikrofon seines Headsets zur Seite gedreht, sich zu Herrn Soundso, Wallner hat gerade seinen Namen nicht präsent, neben ihm gebeugt und mit ihm etwas besprochen.

30

Das Telefon klingelt, einmal, zweimal. Wallner schaut auf das Display, eine Nummer, die er nicht kennt. Warum hat Frau Beck die einfach so durchgestellt?

„Wallner“, meldet er sich.

Aus dem Hörer ist Rauschen gekommen, dann, weit entfernt, „Allô?“

Eine Männerstimme.

„Hallo?“ sagt Wallner.

„Allô?“ die Männerstimme.

„Wer spricht bitte?“ fragt Wallner.

„Wer spricht bitte?“ fragt die Männerstimme.

Wallner legt erschrocken auf. Zu spät erkennt er, daß er gerade einen Fehler begangen und sich selbst um die Möglichkeit gebracht hat, herauszufinden, wer ihn da ärgern oder aber sogar, falls das noch einmal vorkommt, terrorisieren will. Die Nummer auf dem Display ist erloschen.