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Was danach geschah: Die Staaten griffen durch restriktive Maßnahmen wie Schutzzölle wieder verstärkt in das zuvor sehr liberal gehandhabte Wirtschaftsleben ein. Immerhin blieb bis 1914 der Goldstandard erhalten: Seit der Jahrhundertmitte waren alle Währungen frei konvertierbar, weil ein US-Golddollar genauso viel wert war wie das Gold-Pfund, der Gold-Franc, die Gold-Mark oder der Gold-Rubel. In ganz Europa konnte man beliebig reisen (es gab übrigens auch keine Pässe) und mit seinem einheimischen Geld überall bezahlen; eine einmalige Währungsstabilität. Der Goldstandard wurde 1914 aufgehoben und – angesichts der Kriegsfeindschaften – auch die Passkontrollen eingeführt. Erst das Schengen-Abkommen von 1985 und die Euro-Einführung 1999/2002 haben diesen Zustand für Teile Europas wieder rückgängig gemacht.

FIN DE SIÈCLE

Der Titel einer in Vergessenheit geratenen französischen Komödie von 1888 wurde zum Epochenbegriff der Zeit von 1890 bis 1914. Relativ lang anhaltender Friede in Europa und vergleichsweise gesicherte materielle Verhältnisse für die bürgerlichen Schichten führten zu Dekadenzerscheinungen der »Belle Epoque«. Das Erstarren in Konventionen provozierte andererseits eine Aufbruchstimmung, die in der Kunst in »Sezession« und »Jugendstil«, in der Gesellschaft in »Lebensreform«, »Wandervogel« oder »Olympischen Spielen der Neuzeit« (erstmals 1896) zum Ausdruck kam. Überall suchte man Neuansätze, der Begriff »Moderne« wurde erstmals bewusst gebraucht. In Naturwissenschaft und Technik gab es solche bahnbrechenden Neuansätze tatsächlich, als 1895 die Röntgenstrahlen und die drahtlose Telegrafie (Funk) sowie 1898 die Radioaktivität und die Glühbirne entdeckt wurden. Im Jahr 1900 stieg der erste Zeppelin auf, Planck formulierte die Quantentheorie und Freuds Traumdeutung erschien. 1909 überquerte der Franzose Bléroit als erster Mensch in einem Flugzeug den Ärmelkanal, 1912 sank die Titanic.

1881

POGROM    Zar Alexander II. (reg. 1855–81), Sohn von Nikolaus I., beendete 1856 den von seinen Vater begonnenen Krimkrieg gegen die Osmanen, den Russland gegen das restliche Europa sowieso nicht gewinnen konnte, hob 1861 die Leibeigenschaft auf, führte eine umfassende liberale Reformpolitik in dem völlig verkrusteten Polizeistaat durch und überlebte mehrere Attentate, aber nicht das letzte Sprengstoffattentat auf ihn 1881. Traumatisiert kehrten die letzten beiden Zaren zu einer reaktionären Politik zurück.

Alexanders Enkel, der damals zwölfjährige, spätere Nikolaus II. hatte mit angesehen, wie seinem Großvater bei dem Attentat beide Beine abgerissen wurden. Unter Alexander III. begann in Russland eine massive, gesetzlich verordnete Judenverfolgung. »Pogrom« ist ein russisches Wort und bedeutet »Zerstörung, Demolierung«. Diese Judenverfolgungen waren weder die ersten noch die letzten in Russland. Sei führten zu einem massiven Exodus der Ostjuden, die zunächst nach Deutschland kamen. Von hier wanderten viele weiter in die USA und nach Palästina.

Die starke jüdische Minderheit in den USA datiert aus jener Zeit. Sie wurde durch weitere russische Pogrome um 1905 verstärkt.

1894

J’ACCUSE    Nach einem aufsehenerregenden Prozess wurde am 22. Dezember 1894 in Paris der aus dem Elsass stammende französische Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) wegen angeblicher Spionage zur Degradierung und lebenslanger Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt. Dem war eine – eindeutig antisemitisch motivierte – Vorverurteilung in der Öffentlichkeit vorausgegangen. Die Affäre spaltete das ganze Land bis in die Familien hinein. Alle konservativen Gruppen hielten Dreyfus für schuldig. Die öffentliche Erregung wuchs, als der Schriftsteller Emile Zola in der Zeitung L’Aurore unter der dicken Balkenüberschrift J’accuse (»Ich klage an«) einen offenen Brief an den Präsidenten der Republik veröffentlichte, in dem er sich für Dreyfus einsetzte. Dreyfus wurde nach langer Leidenszeit rehabilitiert. Hinter dem politisch engagierten Zola standen politisch die Republikaner, die Sozialisten und – dies war ein neuer Begriff – les intellectuelles: die Intellektuellen. In diesem Zusammenhang entstand der Begriff, übrigens zuerst im konservativen Lager der Dreyfus-Gegner, die ihn ausgesprochen abschätzig gebrauchten.

1896

ZIONISMUS    Einer der Berichterstatter des Dreyfus-Prozesses war der Publizist Theodor Herzl (1860–1904). Er war von dem Geschehen in Frankreich schockiert und sich natürlich des vehementen Antisemitismus in Wien und Österreich bewusst. Unter dem Einfluss dieser Erlebnisse verfasste er sein Buch Der Judenstaat, das 1896 erschien. Damit wurde er zu einem der wesentlichen Begründer des Zionismus. Zur Lösung der Judenfrage (so der Untertitel des Buches) schlägt Herzl einen eigenen Staat für die in alle Welt verstreuten Juden vor. Da damals kaum ein Jude Hebräisch konnte und die meisten Juden in Herzls Umfeld Deutsch oder wenigstens Jiddisch sprachen, schlug er als Staatssprache übrigens Deutsch vor.

1897 veranstaltete Herzl den 1. Zionistischen Weltkongress in Basel. Seit dem Ersten Weltkrieg unterstützte die britische Regierung die Forderung nach einer »nationalen Heimstätte für das jüdische Volk« (Balfour-Deklaration), die dann nach dem Zweiten Weltkrieg realisiert wurde.

1885–1910

DAS HERZ DER FINSTERNIS    Die Belgier wollten das ihnen auf der Kongokonferenz 1885 zugesprochene Kongobecken gar nicht haben, daher vereinnahmte ihr König Leopold II. das erstmals von dem Livingstone-Entdecker Stanley erforschte zentralafrikanische Gebiet als Privatbesitz. Er ließ das riesige, rohstoffreiche Land auf dem Höhepunkt des Kautschukbooms in menschenverachtender Weise ausbeuten. Seine Angestellten forcierten die Zwangsarbeit durch Hände abhacken, Auspeitschungen, Vergewaltigungen, Dörfer niederbrennen und Mord an schätzungsweise zehn Millionen Schwarzen. Der polnisch-englische Schriftsteller Joseph Conrad beschrieb den Wahnsinn dieses Systems in seiner Novelle Das Herz der Finsternis schon 1899, noch bevor es 1906 zu den Gräueln kam.

1908

JUNGTÜRKEN I    Auf einem Kongress in Berlin 1878 waren unter Vermittlung Bismarcks die Grenzen auf dem Balkan neu gezogen worden. Der Kongress brachte Serbien, Montenegro und Rumänien die Unabhängigkeit, Bulgarien wurde ein autonomes Fürstentum unter osmanischer Oberhoheit. Österreich durfte Bosnien-Herzegowina mit seiner Hauptstadt Sarajewo okkupieren, ein kleiner Vielvölkerstaat aus orthodoxen Serben, katholischen Kroaten und Muslimen. Die Neuordnung des Balkans war nach Aufständen in diesen Ländern notwendig geworden, die von Russland unterstützt wurden. Die Gebietsverluste des Berliner Kongresses mussten im Osmanischen Reich unter seinem vorletzten Sultan Abdülhamid II., der von 1876 bis 1909 regierte, erst einmal verkraftet werden. Es geriet darüber in seine finale Krise.

Abdülhamid zeigte sich nach innen anfangs liberal, regierte dann aber zunehmend absolutistisch. Die Armenier, die ihnen zugestandene Rechte einforderten, wurden mit Massakern überzogen. Gegen Abdülhamids autokratische Regierung rebellierten 1908 junge Offiziere und hohe Beamter, die unter Führung von Enver Pascha mit Erfolg eine Liberalisierung und die Einsetzung der 1876 suspendierten Verfassung forderten. 1909 wurde Abdülhamid von den Jungtürken abgesetzt. Mehmed VI. war dann von 1918 bis 1922 der letzte türkische Sultan sozusagen unter Enver Pascha.

In zwei Balkankriegen 1912 und 1913 gegen die unabhängig gewordenen Balkanstaaten verlor das Osmanische Reich dann auch noch seinen letzten europäischen Besitz, Makedonien. Es blieben nur noch Edirne und Konstantinopel selbst – nebst Anatolien und dem Nahen Osten natürlich.