Als fortschrittlich galt unter den Jungtürken eine stramme national-türkische Gesinnung, was gegen den multikulturellen Charakter des osmanischen Vielvölkerreiches gerichtet war. Dementsprechend stark war der Druck auf Minderheiten wie Kurden, Griechen, Juden und vor allem auf die christlichen Armenier.
1898
FASCHODA-KRISE Durch die Weltwirtschaftskrise von 1873 stagnierte Europa wirtschaftlich am Rand der Depression. Nun entdeckte man das noch praktisch unerschlossene Afrika als new market. Imperialisten wie Cecil Rhodes schwebte für Großbritannien eine Nord-Südachse vom ägyptischen Sueskanal über den Sudan und das innerafrikanische Seengebiet bis nach Rhodesien und Südafrika vor. Frankreich war seit 1830 in Algerien, besetzte 1881 Tunesien und brachte in der Folge seinen Einfluss in Westafrika rund um die Sahara zur Geltung.
Als Folge einer Begegnung englischer und französischer Truppen am südsudanesischen Fort Faschoda am Weißen Nil 1898, die angesichts der Stimmungsmache in der europäischen Presse leicht hätte eskalieren können, grenzten die britische und die französische Regierung ihre Einflusssphären in Afrika ab: Frankreich dominierte in Westafrika, Großbritannien im ganzen Osten Afrikas. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die
1904
ENTENTE CORDIALE Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab England seinen außenpolitischen Grundsatz der Splendid Isolation auf und suchte Kontakt auf dem Kontinent. Das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. und dem Militär- und Politmanagement des Admirals Tirpitz war gerade dabei, auf seinen Werften eine schlagkräftige, schimmernde Wehr zur See zu bauen, was der Seeweltmacht England nicht behagen konnte.
Auf dem Umweg über ein Flottenabkommen mit Japan gelangte England in Kontakt mit Frankreich. Man verständigte sich herzlich (französisch s’entender »sich verständigen«, cordial »herzlich«) über den Status quo in Afrika. Vor allem Ägypten sollte im englischen, Marokko im französischen Einflussbereich bleiben.
In Berlin beobachtete man diese Annäherung argwöhnisch, maß ihr aber nicht die Bedeutung bei, die sie bekommen sollte: Die britisch-französische »Erbfeindschaft« war über Jahrhunderte eine der verlässlichsten Konstanten der europäischen Politik. Zehn Jahre darauf waren Engländer und Franzosen im Ersten Weltkrieg Waffenbrüder gegen den gemeinsamen deutschen Feind. Die generelle Verständigung wurde 1907 noch um Russland zur Triple Entente erweitert. Damit stand die maßgebliche Bündnis-Konstellation des Ersten Weltkriegs bereits fest: Frankreich, Großbritannien und Russland gegen Deutschland und Österreich-Ungarn.
ab 1898
GELBE GEFAHR Japan hatte sich nach seiner erzwungenen Öffnung, anders als China, im 19. Jahrhundert reformiert, industrialisiert und modernisiert, alles nach westlichem Muster. Diese extrem reformerische Periode ist die Meiji-Ära (1868–1912), in der der Tenno seit dem ersten Shogunat im Mittelalter erstmals wieder aktiv die führende politische Rolle spielte. Den Japanern kam es darauf an, sich in die vordere Reihe der »zivilisierten Nationen« einzuordnen, wofür in jener Zeit der Westen eindeutig der Maßstab war. Die Chinesen hielten sie für engstirnig und provinziell.
Das Schlagwort von der »Gelben Gefahr« bezog sich auf Japan, nachdem das Land im Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/1895 und im Russisch-Japanischen Krieg 1904/1905 gesiegt sowie Taiwan und Korea annektiert hatte. Es spiegelte europäische Ängste vor einer fernöstlichen Allianz unter japanischer Führung wider. Damals war man in Europa noch daran gewöhnt, in kolonialer Selbstherrlichkeit schalten und walten zu können – ohne selbstbewusste asiatische Mächte.
1899
BOXERAUFSTAND Durch die Ungleichen Verträge hatten sich seit 1842 alle europäischen Mächte und mittlerweile auch Japan und die USA ohne Gegenleistung Vorrechte in China gesichert, die die geschwächte Mandschu-Regierung hinnehmen musste. Das Volk verarmte und sah sich angesichts des Auftretens der Europäer gedemütigt und ausgebeutet. 1897 wurden China auch noch »Pachtverträge« aufgezwungen, die den fremden Mächten Territorialbesitz sowie Bergbau- und Eisenbahnrechte einräumten. Der Kaiserhof unter der Herrschaft der reaktionären Kaiserinwitwe Tse Hsi, die für zwei minderjährige Kaiser von 1875 bis 1908 die Regentschaft führte, erwies sich als reformunfähig. Tse Hsi hatte die Verbotene Stadt natürlich nie verlassen und entschied völlig realitätsfern.
Seit 1899 verübten Mitglieder von Geheimgesellschaften, die ihren Rückhalt in Kampfsportschulen hatten, die von den Engländern »Boxer« genannt wurden, Anschläge auf ausländische Gesandtschaften, gegen Bahnlinien und christianisierte Chinesen. Als die ausländischen Mächte ein Expeditionskorps nach China schickten, kam es zu regelrechten Kriegshandlungen mit Beteiligung der chinesisch-kaiserlichen Armee. Bei der Verabschiedung eines zweiten Korps hielt Kaiser Wilhelm II. seine berühmte Hunnenrede. Darin hieß es unter anderem: »Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschlands in China in einer Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.« Dieser deftigen Rhetorik verdankten die Deutschen im Ersten Weltkrieg bei den Briten ihre Bezeichnung als »die Hunnen«.
Der Aufstand wurde niedergeschlagen, Peking erobert, die Kaiserinwitwe floh. China musste hohe Reparationszahlungen leisten und wurde völlig unter Kuratel gestellt. Der vorletzte Kaiser musste nach Berlin reisen, um sich persönlich zu entschuldigen. Da sich auch die USA und Japan an der Expedition gegen die Boxer beteiligt hatten, gehörten sie seitdem zum Kreis der internationalen Großmächte – und China verlor für Jahrzehnte seine Vormachtstellung in Ostasien.
1908–1912
DER LETZTE KAISER Pu Yi war noch auf Veranlassung der Tse-Hsi im Alter von zwei Jahren auf den Drachenthron gelangt. Bereits 1895 hatte sich der in Hawaii geborene Sohn eines Kuli Sun Ya-tsen (ca. 1870–1925), der in Hongkong Medizin studierte hatte, an einem Aufstand beteiligt und musste ins westliche Ausland fliehen. Von dort organisierte er die nationalchinesische Kuomintang-Bewegung, die den erfolgreichen Aufstand zum Sturz der Monarchie organisierte. Er brach im Oktober 1911 aus; binnen kurzer Zeit erklärten sich viele Provinzen für unabhängig von der Mandschu-Dynastie. Ziel der Revolution war die Erneuerung Chinas und die Rückgewinnung seiner Unabhängigkeit. Pu Yi wurde in einem »Wohlwollenden Vertrag« höflich mit einer Apanage versehen, erteilte seine Zustimmung zur Errichtung einer Republik und schied am 12. Februar 1912 aus dem Staatsdienst aus.
Damit endete die zweitausendjährige Geschichte des chinesischen Kaiserreiches. Auch in Europa sollte es mit den Kaiserreichen alsbald zu Ende gehen.
1909
NIBELUNGENTREUE In einer Reichstagsrede vom 29. März 1909 gebrauchte Reichkanzler Bülow das Schlagwort von der Nibelungentreue, um die unbedingte Bündnistreue des Deutschen Reiches zu Österreich zu charakterisieren. Darin schwang die Vorstellung jener Zeit mit, die sagenhaften Nibelungenkönige hätten auch angesichts des drohenden Untergangs treu zu ihrem Vasallen gestanden. Kriemhild hatte Hagens Auslieferung gefordert. Österreich hatte 1909 Bosnien annektiert, was nicht jeder in Europa als rechtmäßigen Vorgang betrachtete.
Was danach geschah: Aufgrund der damaligen Bündnissysteme trat das Deutsche Reich an der Seite Österreichs einen Monat nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo (28. Juni 1914) in den Krieg ein. In diesem Weltkrieg verloren rund zehn Millionen Menschen ihr Leben, 20 Millionen wurden verwundet. In vier Kaiserreichen (Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland, Osmanisches Reich) wurde die Staatsform der Monarchie ein für alle Mal beendet. In Deutschland verloren sämtliche Dynastien ihre Throne. In den Stahlgewittern dieses Krieges ging die auf eine Person konzentrierte Regierungsform, die über 1000 Jahre in Europa in den unterschiedlichsten Schattierungen vorherrschend war, endgültig zugrunde.