Doch nicht so heute. Garad lag auf einem Grollhuf-Fell auf dem Boden aus festgetretener Erde. Eine zweite Felldecke war über ihm ausgebreitet. Geyah hatte eine Hand unter seinen Nacken geschoben und seinen Kopf angehoben, damit der Häuptling der Frostwölfe von der Kürbisschale trinken konnte, die sie in der anderen Hand hielt. Als Durotan hereinplatzte, drehten sowohl sie als auch Drek’Thar, der neben ihr stand, die Köpfe zum Eingang.
„Mach die Tür zu!“, schnappte Geyah. Rasch gehorchte Durotan, so erschrocken, dass ihm kurz die Worte fehlten. Mit zwei weiten Schritten ging er zu Garad hinüber und kniete sich neben ihn.
„Vater, was stimmt nicht mit dir?“
„Nichts“, brummte der Häuptling und schob gereizt die Schale mit der dampfenden Flüssigkeit von sich. „Ich bin müde. Man könnte meinen, der Tod stehe über mir, und nicht nur Drek’Thar – obwohl ich mich manchmal frage, ob sie nicht vielleicht ein und derselbe sind.“
Durotan sah von Drek’Thar zu seiner Mutter; beide hatten einen traurigen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Geyah sah aus, als hätte sie während der letzten drei Tage nicht mehr als ein paar Sekunden geschlafen, und erst jetzt fiel Durotan auf, was ihm zuvor entgangen war: Sie trug noch immer dieselben Perlen in ihrem Haar wie bei Gul’dans Besuch. Ausgerechnet sie, die sie sofort jegliche rituelle Kleidung ablegte, sobald eine Zeremonie beendet war.
Doch es war der Schamane, dem Durotans Worte galten. „Drek’Thar?“
Der alte Orc seufzte. „Es ist weder eine mir bekannte Krankheit noch eine Verletzung“, erklärte er. „Aber Garad fühlt sich …“
„Schwach“, sagte Geyah mit zitternder Stimme.
Das war also der Grund, warum sie ihn drei Tage in Folge gedrängt hatte, Feuerholz zu sammeln. Sie hatte ihn nicht hier im Dorf haben wollen, wo er zwangsläufig Fragen gestellt hätte.
„Ist es ernst?“
„Nein“, grummelte Garad.
„Wir wissen es nicht“, antwortete Drek’Thar, als hätte der Häuptling überhaupt nicht gesprochen. „Und das macht mir die größten Sorgen.“
„Glaubst du, es hat damit zu tun, was Gul’dan sagte?“, wollte Durotan wissen. „Dass die Welt krank sei?“
Dass diese Krankheit auch den Frostfeuergrat erreichen würde.
Drek’Thar seufzte. „Es könnte sein“, räumte er ein. „Aber vielleicht ist es auch gar nichts. Nur eine Infektion, die ich nicht erkennen kann und die bald schon abklingen wird. Oder vielleicht …“
„Wenn es eine Infektion wäre, wüsstest du es“, entgegnete Durotan tonlos. „Was sagen die Geister?“
„Sie sind aufgebracht“, erwiderte der Schamane. „Sie konnten Gul’dan nicht ausstehen.“
„Wer könnte es ihnen verübeln?“, warf Garad ein. Er zwinkerte seinem Sohn auf eine Art zu, die aufmunternd wirken sollte. Doch die Geste hatte genau die gegenteilige Wirkung. Die grimmige Prophezeiung des grünen Orcs hatte den gesamten Klan beunruhigt. Es wäre unklug, würde Garad nun in diesem Zustand vor seine Leute treten. Geyah und Drek’Thar hatten die richtige Entscheidung getroffen, indem sie warteten, bis er wieder gesund wäre, bevor …
Durotan fluchte. Der Anblick seines geschwächten Vaters hatte ihn so erschreckt, dass er ganz vergessen hatte, warum er überhaupt so in die Hütte gestürmt war.
„Wir haben Spuren von Eindringlingen in den Wäldern gefunden, eine Wegstunde im Südosten“, sagte er. „Sie rochen nach Blut. Mehr Blut als bei einer einfachen Tötung. Und es war altes Blut.“
Garads kleine Augen – feucht und blutunterlaufen – wurden bei diesen Worten schmal, und er streifte seine Decke ab. „Wie viele?“, fragte er, während er versuchte aufzustehen.
Seine Beine gaben nach und Geyah musste ihn auffangen. Durotans Mutter war stark und trug in sich die Weisheit vieler Jahre, aber zum ersten Mal, seit ihr Sohn sich erinnern konnte, wirkten seine Eltern alt auf ihn.
„Ich werde einen Kriegstrupp zusammenrufen“, beschloss Durotan.
„Nein!“ Der Protest war ein lautes Brüllen, und trotz allem erstarrte der junge Orc mitten in der Bewegung, so stark war der Instinkt, einem Befehl seines Vaters zu gehorchen.
Geyah hingegen war deutlich entschlossener. „Durotan wird sich um diese Eindringlinge kümmern“, erklärte sie. „Lass ihn den Kriegstrupp anführen.“
Garad stieß seine Gefährtin beiseite. Die Bewegung war herrisch, wütend, aber Durotan wusste, dass es Furcht war, die seinen Vater antrieb. Normalerweise würde Geyah nicht zögern zurückzuschlagen, wenn er sie so respektlos behandelte, denn auch, wenn er der Häuptling war, sie war die Frau des Häuptlings, und sie würde sich eine solche Behandlung nicht bieten lassen.
Dass sie überhaupt nicht reagierte, erschreckte Durotan bis ins Mark.
„Hört mir zu“, sagte Garad, an sie alle gewandt. „Falls ich nicht ausreite, um mich dieser Gefahr zu stellen, wird der Klan wissen – oder glauben –, dass ich zu schwach dafür bin. Dank Gul’dans Unsinn sind sie ohnehin schon aufgewühlt. Falls sie jetzt auch noch daran zweifeln, dass ich sie führen kann …“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich werde mit diesem Kriegstrupp reiten, und ich werde siegreich zurückkehren. Und was immer danach kommen mag, wir werden es mit dem Hochgefühl des Triumphs in Angriff nehmen. Denn ich werde den Frostwölfen bewiesen haben, dass ich sie beschützen kann.“
Seine Logik war unanfechtbar, obwohl Durotans Herz laut protestierte. Er blickte seine Mutter an und sah eine wortlose Bitte in ihren Augen. Sie würde nicht an Garads Seite kämpfen, nicht heute. Zum ersten Mal in ihrem Leben glaubte Geyah, dass ihr Partner nicht aus dem Kampf zurückkehren würde. Der Klan konnte es sich nicht leisten, ihn, sie und Durotan auf einmal in der Schlacht zu verlieren. Die Erkenntnis erfüllte den jungen Orc mit Seelenqualen.
„Ich werde ihn nicht aus den Augen lassen, Mutter. Ihm wird nichts …“
„Die Schwachen werden verbannt, Durotan“, unterbrach ihn Garad. „So ist es bei den Frostwölfen. Du wirst weder die ganze Zeit an meiner Seite kleben noch wirst du dich einmischen. Falls es mein Schicksal ist, werde ich es akzeptieren, und zwar ohne Hilfe, auf dem Rücken von Eis oder auf meinen eigenen Beinen.“ Noch während er sprach, begann er zu schwanken. Geyah fing ihn auf, und diesmal war er nicht grob, als er sich von seiner liebevollen Gefährtin löste. Er griff nach der Schale und blickte kurz hinein.
„Sag mir, was du gesehen hast“, forderte er Durotan auf, und während er ihm zuhörte, trank er die Brühe aus.
5
Geyah und Durotan halfen Garad, seine Kampfrüstung anzulegen. Sie unterschied sich von der Jagdrüstung, weil sie nicht entworfen war, um Hufen oder Hörnern standzuhalten, sondern speziell dafür, Schläge mit Äxten, Hämmern und Streitkolben abzuwehren. Tiere griffen den Schwerpunkt ihrer Gegner an: die Brust oder die Beine. Orcs attackierten oft dieselben Stellen, aber es waren die Schultern und der Hals, die beim Einsatz von Nahkampfwaffen die verwundbarsten Ziele darstellten. Darum wurde der Nacken durch einen dicken Lederkragen geschützt, und über den Schultern lagen mächtige, mit Metalldornen besetzte Polster. Doch bei einem Volk, für das Ehre über allem anderen stand, zählte die Rüstung lange nicht so viel wie die Waffen. Und die Waffen, mit denen Orcs in die Schlacht zogen, waren gewaltig.
Orgrim etwa trug den ihm vererbten Schicksalshammer, nach dem seine Familie benannt war: ein mächtiger Brocken Granit, zweifach umwickelt mit goldbeschlagenem Leder und befestigt an einem Griff aus Eichenholz, der selbst beinahe schon eine Waffe war.
Donnerschlag war die Erbwaffe, die Garad bevorzugt auf die Jagd mitnahm. Doch in der Schlacht verließ er sich auf die mächtige Axt, die er Spalter genannt hatte. Mit ihren beiden stählernen Klingen, zu einer blattdünnen Schneide geschärft, tat diese Waffe genau, was ihr Name verkündete. Es kam nur selten vor, dass Garad sie auf seinen Rücken schnallte, aber heute trug er sie voller Stolz.