Durotan war nun der Anführer der Frostwölfe – zumindest fürs Erste –, und er spürte die Augen der anderen auf sich. Sobald er sicher war, dass sein Vater ausreichend festgeschnallt war, um die letzte Reise zurück zum Frostfeuergrat anzutreten, wandte er sich von Eis ab und blickte den Kriegstrupp an.
„Wir ritten heute aus, um uns einer Herausforderung zu stellen“, sagte er. „Und wir haben uns ihr gestellt. Wir haben gesiegt, und jetzt liegen unsere Feinde im Schnee und werden steif. Die Bedrohung für unseren Klan ist ausgeschaltet. Aber dieser Sieg hat einen Preis gefordert. Wir haben Garad verloren, Sohn von Durkosh, Sohn von Rokuk – unseren Anführer. Er starb so, wie er, wie jeder Frostwolfkrieger es sich nur wünschen kann: im Kampf, während er seinen Klan tapfer gegen einen klaren Feind verteidigte.“
Mit bebenden Nasenflügeln hielt er inne, bereit, jedem Orc über den Mund zu fahren, der etwas Gegenteiliges behauptete. Doch die anderen schwiegen, wenn sie auch voller Unbehagen im Schnee mit den Füßen scharrten. Keiner von ihnen sah Durotan in die Augen.
„Wir wollen ihn schweigend nach Hause bringen. Als sein Sohn bin ich sein Erbe, es sei denn, die Geister befinden mich für unwürdig.“ Oder ich werde herausgefordert, dachte er, aber das sprach er nicht laut aus. Falls irgendjemand bereits derartige Pläne schmiedete, konnte er das nicht ändern, aber er würde die anderen ganz sicher nicht selbst auf solche Gedanken bringen.
Dennoch, der Schatten lag über ihm. Garad war gefallen, als er nicht hätte fallen dürfen, und das bedeutete nichts Gutes für Durotan – und für die Frostwölfe.
Entschlossenheit verscheuchte seine Trauer, als er auf Scharfzahns Rücken sprang. Zumindest eine Gewissheit gab es inmitten all dieses brodelnden Chaos: Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um einen großen Orc zu ehren und seinen Namen reinzuwaschen.
Garad war viele Jahre Häuptling gewesen, darum hatten nur die wenigsten Mitglieder des Frostwolfklans schon einmal an dem Ritual teilgenommen, das nun bevorstand. Vom grauesten Orc bis zum kleinsten Säugling fanden sie sich alle an dem speziellen Kreis ein, der auf Drek’Thars Anweisung entstanden war. Er befand sich nicht allzu weit vom Dorf entfernt, aber doch klar außerhalb, in einem offenen Areal, welches groß genug war, damit alle der Zeremonie beiwohnen konnten. Es versetzte Durotan einen Stich, als er erkannte, dass diese Stelle, an der heute Abend getrauert wurde, dieselbe Stelle war, an der der Klan bei der Sommersonnenwende tanzen und feiern würde.
Garads Leiche war auf einen Scheiterhaufen gebettet worden. Um ihn zu errichten, hatte der Klan einen Großteil seines Holzvorrats geopfert. Voller Verbitterung dachte Durotan über die Ironie nach, dass es ausgerechnet die Suche nach Feuerholz gewesen war, die zu alldem geführt hatte.
Es fühlte sich alles so schrecklich falsch an. Vor vier Tagen hatte niemand hier von einem grünen Orc namens Gul’dan gehört. Am Morgen dieses Tages hatte Garad noch geatmet, und der Klan hatte nichts vom wahren Schrecken der Rotläufer gewusst. Durotan fragte sich, ob er den Gestank getrockneten Blutes wohl je aus der Nase bekommen würde.
Man hatte Garads Leiche gebadet, aber das Loch in seiner Brust klaffte noch immer weit. Wie die Narben auf lebendem Fleisch kündeten auch die Wunden der Gefallenen von ihrer Ehre. Wann immer ein Orc im Kampf fiel, sei es nun in der Schlacht oder auf der Jagd, blieben die Wunden, die zu seinem Tod geführt hatten, unbehandelt, damit jeder sehen konnte, was er zum Wohle seines Klans durchlitten hatte. Garad trug die Rüstung, in der er gestorben war, beschädigt durch die Hiebe, die sein Leben gefordert hatten. Die Glieder seines Vaters so reglos zu sehen, erfüllte Durotan mit schrecklichem Schmerz.
Die jüngeren Schamanen, die Drek’Thar dienten, hatten um den Scheiterhaufen herum einen Kreis aus Steinen gelegt, wobei sie an einer Stelle einen Freiraum freigelassen hatten, damit Durotan hindurchtreten könnte. Voller Ehrerbietung hatten sie die Steine in den Händen gehalten, auf sie eingesungen und sie dann auf dem Boden platziert. Durotan hatte gespürt, wie sich eine Energie aufbaute, und sie wurde noch stärker, als sämtliche Mitglieder des Klans in tiefem Schweigen herbeikamen und ringsum Platz nahmen.
Drek’Thar hatte sich bislang wortlos im Hintergrund gehalten, eine Hand auf Weisohrs Nacken, aber nun, da der Kreis beinahe vollendet war, trat der Wolf vor und führte seinen Meister zwischen die geweihten Steine. Mit einem leisen Wort und einem Klaps schickte der Schamane Weisohr fort, dann richtete er sich auf.
„Frostwölfe!“, rief er. „Wir wissen, dass unsere Lebensart es wert ist, dafür zu kämpfen, und heute haben unsere Krieger genau das getan. Die meisten kehrten siegreich zu uns zurück, aber einer überlebte nicht, um in diesem Leben noch einmal mit uns zu feiern. Wir trauern um jeden Krieger, der stirbt, und ehren sein Opfer, und auch diesmal werden wir das tun. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum wir hier zusammengekommen sind. Denn der Orc, der heute fiel, war unser Häuptling, Garad, Sohn von Durkosh, Sohn von Rokuk. Und darum müssen wir die Geister von Erde, Luft, Wasser, Feuer und Leben ersuchen, seinen Sohn, Durotan, zu segnen, damit er uns ebenso gut und weise führen möge, wie sein Vater es tat.“
Es gab kein Gemurmel – für eine solche Respektlosigkeit war das Ritual zu bedeutsam. Doch viele in der Menge wandten die Augen ab oder verlagerten ihr Gewicht. Es machte Durotan wütend, aber er ignorierte es und behielt den Blick fest auf Drek’Thar gerichtet, während er auf das Signal wartete, in den Kreis zu treten.
Doch es war seine Mutter, die zuerst vom Schamanen gerufen wurde. Seine Stimme klang sanft, als er sagte: „Geyah, Tochter von Zungar, Sohn von Kerzug, du warst Garads Partnerin in diesem Leben. Die Hand, die am innigsten liebte, muss das Feuer entzünden.“
Geyah trug ihr normalerweise geflochtenes Haar offen und ungebunden, sodass es ihr fast bis zur Hüfte reichte. Ihr Körper war so gerade wie die Kiefern, als sie vortrat, und nur Durotan kannte sie gut genug, um das Schimmern nicht vergossener Tränen in ihren Augen zu erkennen. Später würde sie weinen; sie beide würden weinen, wenn sie allein mit ihrem Schmerz wären. Doch jetzt, wo eine dunkle Wolke wie ein Schandfleck über dem Andenken eines geliebten Gefährten und Vaters hing, mussten sie Stärke demonstrieren.
Falls die Geister ähnlich empfinden wie einige Mitglieder des Klans …
Nein. Solchen Gedanken würde er nicht einmal einen Herzschlag lang Beachtung schenken. Garad war ein großer Orc-Häuptling gewesen, und Durotan wusste, dass er nichts getan hatte, was seiner Familie, seinem Klan oder den Geistern Unehre bereitet hätte. Alles würde gut werden.
Es musste ganz einfach.
Seine Finger schlossen sich zu Fäusten.
„Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh, tritt in den Kreis! Lass dich von den Geistern beurteilen, die unser Volk seit dem Anbeginn der Zeit geehrt hat und die noch immer hier sein werden, wenn wir alle vergessen sind und kein Mund mehr unsere Namen singt.“
Aus dem Augenwinkel sah Durotan Orgrim, der ihn gespannt anstarrte. Der andere Orc hob langsam, bedächtig die Faust vor die Brust und reckte das Kinn zur Bekundung seines Respekts nach vorne. Einen Moment später folgten ein paar andere seinem Beispiel, dann noch weitere, und als die jungen Schamanen den Kreis hinter ihm mit heiligen Steinen geschlossen hatten, salutierte schließlich der gesamte Klan vor Garads Sohn. Durotan warf Orgrim einen dankbaren Blick zu, dann wappnete er sich für das, was nun kommen mochte.
Drek’Thar hatte ihm nicht gesagt, wie es sein würde, was nur logisch war, da er diese Erfahrung selbst nie gemacht hatte. „Außerdem vermute ich, dass es für jeden anders ist“, hatte er erklärt. Das Einzige, was Durotan wusste, war, dass die Geister gleichzeitig mit Drek’Thar in Verbindung stehen würden, während sie über ihn urteilten.