Der alte Schamane hatte ein Bündel getrockneter, fest zusammengeschnürter Rauchblätter in der Hand. Die Pflanze gab einen süßlichen Geruch von sich, wenn sie, so wie jetzt, verbrannt wurde, und der Rauch kräuselte träge von den Blättern nach oben, während die Glut sie langsam verschlang. Nachdem Durotan sich vor dem Schamanen hingekniet hatte, hielt Drek’Thar mit einer Hand das Bündel hoch und wedelte ihm mit der anderen den Rauch ins Gesicht.
Es roch gut – sauber und frisch. Der Schamane reichte die Rauchblätter an Palkar weiter, seinen Assistenten. Ein dritter Schamane, Relkarg, hielt Durotan eine Schale hin. Der junge Orc nahm sie und trank; die Flüssigkeit war heiß, dickflüssig und süß vom Saft, den die Bäume weinten. Nachdem er Relkarg die Schale zurückgegeben hatte, wartete er auf weitere Anweisungen.
„Setz dich jetzt, Junge“, sagte Drek’Thar. Große Zuneigung klang in seiner Stimme mit. Er und Garad waren eng befreundet gewesen, und zweifelsohne fiel es auch dem Schamanen schwer, mit der plötzlichen Leere in seinem Herzen umzugehen. „Die Geister kommen, wann es ihnen beliebt.“
Durotan gehorchte. Er spürte, wie seine Lider schwer wurden, und ließ sie bereitwillig zufallen.
Einen Moment später klappten sie wieder auf.
Während der vergangenen Jahre hatte er schimmernde Farben am winterlichen Nachthimmel gesehen, die aus Nebel zu bestehen schienen. Die Visionen, die er nun mit der gleichen Klarheit vor sich in der Luft wabern sah, hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem erhabenen himmlischen Schauspiel, aber nur in dem Maße, wie ein Schössling Ähnlichkeit mit einem uralten Baum hat. Durotan keuchte ehrfürchtig und streckte ohne nachzudenken die Hand nach den Trugbildern aus, so, wie vielleicht ein Kind es tun würde.
Sie tanzten vor ihm, grün, rot, blau und gelb, aber er wusste, dass sie nicht wirklich, körperlich hier waren. Sie existierten in seinem Geist, in seinen Ohren und Augen, in seinem Blut und seinen Knochen. Egal, wie real sie erschienen, während sie hin und her zuckten, um dann wieder schwebend zu verharren, Durotan wusste, dass alles, was er nun wahrnahm, allein für ihn bestimmt war.
In seiner Vision verdampfte der Schnee unter ihm, und mit ihm schmolzen die tanzenden Farben dahin. Durotan saß nun auf guter, fester Erde, gehalten und umsorgt wie ein Säugling in den Armen der Mutter. Neugierig legte er die Hände auf den Boden und grub seine Finger tief hinein. Als er sie wieder hob, waren sie voller Erde.
Durotan lächelte, dann stieß er ein überraschtes, ungehemmtes Lachen aus, als ihm aus dem Nichts eine frische Brise entgegenwehte und sanft die Erde von seinen Händen trug. Geschwängert vom Duft frischen, jungen Grases streichelte dieser Wind sein Gesicht, und als der junge Orc tief einatmete, entspannten sich seine Lungen.
Nun begann die Luft zu wirbeln und Farbe zu gewinnen, aber es handelte sich nicht um die sanften, magischen Töne, die eben noch vor seinen Augen getanzt hatten. Diese Farben waren viel kräftiger: ein Flackern aus scharfem Rot, Orange, Weiß und Blau. Einen Moment später knisterte plötzlich rings um ihn herum ein Feuer. Nachdem sein Gesicht von der Kälte allmählich taub geworden war, begrüßte Durotan die Wärme der Flammen. Kein Frostwolf konnte ohne Feuer überleben. Es war ihnen lieb und teuer, und der Geist des Feuers schien das zu wissen.
Etwas Feuchtes berührte seine Wange. Dicke, weiße Flocken rieselten auf ihn herab, und die Flammen zischten und erstarben unter ihrer Berührung. Obwohl er die Wärme des Feuers vermisste, hatte Durotan nichts dagegen, dass der Geist des Wassers seinen Platz einnahm. Was war ein Frostwolf schließlich ohne Frost? Eis und Schnee waren ein Teil dessen, was sie einmalig machte – was sie stark machte. Das Wasser reinigte und säuberte. Es stillte den Durst und bisweilen füllte es einem die Augen und rann über die Wangen hinab, so, wie es jetzt bei Durotan der Fall war. Wasser tröstete und heilte, und der junge Orc akzeptierte seine Sanftheit in dieser Form ebenso, wie er in anderen Formen seine Härte und Vehemenz annahm.
Die schimmernden Farbtöne, die gleichzeitig real und irreal waren, begannen umherzuwirbeln. Sie jagten einander, wie ein Welpe seinen Schwanz jagt, so schnell, dass sie schon bald verschwammen. Anschließend explodierte ein weißes Leuchten vor Durotan, so grell und so wunderschön, dass er seinem Anblick nicht standhalten konnte.
Erde, Luft, Feuer, Wasser – sie alle waren gekommen, und jetzt hießen sie den größten aller Geister willkommen: den Geist des Lebens.
Durotan war seit dem Tod seines Vaters wie betäubt gewesen, seit er mitangesehen hatte, wie der Häuptling der Frostwölfe ohne Waffe in der Hand starb, unfähig, ihm rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Er hatte seine Emotionen unterdrückt, um vor dem Klan stark zu wirken, aber jetzt ging das nicht länger. Seine Sinne waren auf unglaublich intensive und schmerzhafte Weise lebendig, sein Herz schwoll an vor Liebe und Qual, bis er glaubte, er würde es nicht mehr ertragen. Wie könnte ein einzelnes Wesen so etwas auch ertragen …
Aber du musst, erklang ein Wispern in seinem Bewusstsein. Du erfährst das Leben mit all seinen Freuden und Ängsten und Schrecken und Verlusten, mit all seinen Segnungen und all seiner Macht. Du möchtest Häuptling deines Volkes sein – dann ertrage all das, nur einen Moment lang, und du wirst ihrer würdig sein. Sie haben Angst und Wünsche, sie lachen und weinen und leben – spüre es, Durotan, Sohn von Garad. Spüre es und ehre es!
Durotan fühlte sich, als würde sein Geist ausgedehnt, neu geformt, geschmiedet, um mehr in sich aufzunehmen, als ihm je bestimmt war. Er war nur ein Orc. Doch was war ein Häuptling, wenn nicht der Hüter seines Klans? Und wie sollte er in ihrem Namen handeln, wenn er seine Leute nicht wirklich spürte? Zitternd vor Furcht akzeptierte Durotan den Test des Lebens. Mehr und mehr Emotionen strömten in ihn, bis er so riesig war, dass er …
Und dann war es vorbei.
Sie waren alle fort.
Er öffnete die Augen und sah eine Welt, die seltsam flach und farblos wirkte. Sein Herz pochte gegen seine Brust, seine Lungen pumpten. Er war wieder allein. Einen Moment lang war die Einsamkeit überwältigend, ebenso unerträglich, wie es zuvor die Fülle seines Klans gewesen war, doch schließlich ließ dieses Gefühl nach.
Sein Blick klärte sich, und er sah seine Mutter, am Scheiterhaufen seines Vaters stehend, ein schmales Lächeln auf ihren Lippen. Ihre Augen waren nicht länger feucht vor Trauer, stattdessen brannten sie vor Stolz. In dem benommenen Zustand, in dem die Geister ihn zurückgelassen hatten, betrachtete Durotan die Gesichter der anderen. Sie waren ihm ebenso vertraut wie die Spiegelung seines eigenen in einem Teich, aber jetzt wirkten sie gleichzeitig fremd und neu in ihrer plötzlichen, kostbaren Schönheit, ihrer pulsierenden Lebendigkeit.
Die Frostwölfe waren seinem Vater gefolgt. Jetzt würden sie ihm folgen, und er würde tun, was das Beste für sie war, so, wie Garad es stets getan hatte. Durotan versuchte zu sprechen, aber sein Herz quoll schier über vor tosenden Emotionen, sodass er keine Worte fand.
„Die Geister haben dich akzeptiert, Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh“, erklang Drek’Thars Stimme. „Akzeptiert ihr ihn, Frostwölfe?“
Das Jubelgeschrei, das darauf antwortete, war ohrenbetäubend. Durotan stand auf, hob die Hände und ballte sie in der Luft zu Fäusten, während er den Rücken nach hinten beugte und all seine Freude und Hoffnung hinausbrüllte.
Nachdem der Schrei verhallt war, wandte sich der neue Häuptling der Frostwölfe mit klingelnden Ohren und überschäumendem Herzen an Drek’Thar. Er blickte in das ernste Gesicht des Schamanen, und erst da erkannte er: Die Geister mochten ihn akzeptiert haben, aber ihre Welt war in Aufruhr.
7
Nach der Zeremonie entzündete Geyah das Feuer, das den Leib ihres Partners verschlingen würde. Sie und ihr Sohn standen in stummer Mahnwache, während sich die Flammen über die Äste ausbreiteten, dann höher schlugen und sich als ein Wall aus Licht und Hitze gegen die Kälte und Dunkelheit der herannahenden abendlichen Schatten stellten. Durotan erinnerte sich an den Geist des Feuers mit seinen unzähligen Farbtönen, und er sah sie erneut vor seinem geistigen Auge, während er in die Flammen des Scheiterhaufens starrte. Im Laufe der Nacht kamen immer wieder Mitglieder des Klans herbei, um neues Holz ins Feuer zu legen, damit es heiß genug blieb, um Garads Körper zu Asche zu verbrennen. Als die Sonne ihr Antlitz zeigte, war es schließlich vorbei. Das Feuer hatte den toten Häuptling verschlungen, die Luft seine Asche verstreut. Später würde das Wasser sie zurück zur Erde bringen, und diese würde sie in den Boden aufnehmen. Das Leben hatte geendet, und doch ging es weiter.