Dort fanden sie das Tier.
Durotan hatte ein Bullenkalb verwundet. Vorhin, als sich der junge Orc in seinem ersten echten Blutrausch verloren hatte, war ihm das Tier riesig erschienen, doch jetzt sah er, dass es – er – noch nicht voll ausgewachsen war. Dennoch war es so groß wie drei Orcs, sein Körper in struppiges Fell gehüllt. Sein Atem stieg in schnell aufeinanderfolgenden weißen Wolken auf, und seine Zunge hing zwischen stumpfen, gelben Zähnen hervor. Kleine, tief im Schädel liegende Augen öffneten sich, als es die Orcs roch, und es versuchte, sich aufzurichten. Doch dadurch erreichte es nur, dass sich Durotans schlecht gezielter Speer noch tiefer bohrte und matschiger, roter Schnee aufwirbelte. Durotans Magen zog sich zusammen, als das Kalb vor Schmerzen und Trotz schrie.
Der junge Orc wusste, was er jetzt zu tun hatte. Sein Vater hatte ihn auf die Jagd vorbereitet, indem er ihm die inneren Organe der Grollhufe beschrieben und erklärt hatte, wie man ein solches Tier am besten ausnahm. Durotan zögerte nicht. Er rannte so schnell auf das Kalb zu, wie es im Schnee möglich war, griff nach dem Speer und riss ihn aus der Wunde. Anschließend rammte er die Waffe direkt und sauber ins Herz des Tieres und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen.
Der Grollhuf schauderte, als er starb, dann entspannten sich seine Muskeln zu stiller Reglosigkeit, während heißes Blut sein Fell und den Schnee tränkte. Drek’Thar trat an Garads Seite, der hinter Durotan zurückgeblieben war. Der Schamane neigte den Kopf und lauschte, als der Vater den Sohn erwartungsvoll anblickte.
Durotan blickte zu ihnen hinüber, dann auf das Tier hinab, das er getötet hatte, und schließlich in sein Herz, so, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Er kniete sich in den blutigen Schnee neben den Grollhuf, streifte den fellbedeckten Handschuh ab und legte die nackten Finger auf die Seite des Kalbs. Es war noch warm.
Er fühlte sich ein wenig unbehaglich, während er sprach, und er hoffte, dass seine Worte akzeptabel waren. „Geist des Grollhufs, ich, Durotan, Sohn von Garad, Sohn von Durkosh, danke dir für dein Leben. Dein Fleisch wird meinem Volk helfen, den Winter zu überleben. Deine Haut und dein Fell werden uns warmhalten. Wir … ich bin dir dankbar.“
Er hielt inne und schluckte. „Es tut mir leid, dass deine letzten Augenblicke voll Schmerz und Angst waren. Das nächste Mal werde ich besser sein. Ich werde mein Ziel direkt und sauber treffen – so, wie mein Vater es mich gelehrt hat.“ Während er sprach, wurden ihm das lebensrettende Gewicht seines Mantels und das Gefühl der Stiefel um seine Füße viel deutlicher bewusst, und er empfand neue Dankbarkeit dafür, dass er diese Dinge hatte. Als er zu seinem Vater und zu Drek’Thar aufblickte, nickten sie anerkennend.
„Ein Frostwolf ist ein geschickter Jäger und ein mächtiger Krieger“, sagte Garad. „Aber er ist nie grausam, wenn er es nicht sein muss.“
„Ich bin ein Frostwolf“, erklärte Durotan stolz.
Garad lächelte und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. „Ja“, sagte er. „Das bist du.“
1
Die heulenden Schreie jagender Orcs zerrissen die eisige Luft. Durotan hatte schon gegen andere Klans gekämpft, aber hier, hoch im Norden, in ihrer Heimat, wurden die Frostwölfe nur selten herausgefordert. Hier stillten sie ihren Durst nach Blut und Ehre meist so, wie sie es jetzt taten – mit Gebrüll und Siegesliedern, während berittene Orcs die mächtige Beute erlegten, die vor ihnen floh.
Die Erde bebte unter den donnernden Füßen einer Herde Grollhufe. Der Winter hatte das Land scheinbar ewig in seinem Griff gehalten, und nun, in seinen letzten Momenten, waren die Tiere zottelig und dünn. Die Frostwölfe waren den Spuren der Herde zwei Tage lang gefolgt, und nun, da sie ihre Beute entdeckt hatten, erfüllte sie neue Energie, und sie machten voller Freude Jagd auf die Tiere.
Garad führte die Gruppe an. Silberne Strähnen durchzogen sein langes, schwarzes Haar, doch sein Körper war noch immer hochaufgerichtet und stark. Zu seiner Rechten ritt Durotans Mutter, Geyah, ihr Körper war schlanker als der ihres Partners, ihre Bewegungen aber waren ebenso schnell und ihre Schläge ebenso tödlich. Garad gab nicht mehr alle Befehle; oft hielt er sich zurück, damit Durotan diese Rolle übernehmen konnte. Der Orc indes fühlte sich selten so lebendig wie bei einer Jagd an der linken Seite seines Vaters.
Rechts von Durotan ritt Orgrim Schicksalshammer, sein bester Freund. Die beiden verstanden sich, seit sie laufen konnten, und hatten sich seither in allerlei Wettbewerben und Herausforderungen gemessen, die aber nie mit Streit, sondern stets in Gelächter endeten. Orgrims Mutter behauptete, ihr kleiner Krieger wäre so kampfbegierig gewesen, dass er mit dem Kopf nach der Hand der Hebamme geschlagen hätte, als er auf die Welt kam. Die Geister hatten ihn darum mit einem rötlichen Fleck auf seinem ansonsten braunen Schädel versehen. Orgrim mochte diese Geschichte, und deshalb rasierte er seinen Kopf, selbst im Winter, was die meisten Frostwölfe für töricht hielten. Die vier waren schon oft in dieser Formation geritten, und die Bewegungen der anderen waren jedem von ihnen so vertraut wie ihr eigener Herzschlag.
Durotan blickte zu Garad hinüber, während sie den Grollhufen nachsetzten. Sein Vater nickte grinsend. Der Klan hatte schon einige Zeit Hunger gelitten; doch heute Nacht würde es ein Festmahl geben. Geyah presste die langen Beine in die Seiten ihres Wolfes, Jauler, dann spannte sie ihren Bogen und wartete auf das Signal ihres Partners.
Garad hob seinen Speer, Donnerschlag, der mit Runenschnitzereien, Lederstreifen und zwei Arten von Kerben verziert war: Horizontale Markierungen repräsentierten das Leben eines Tieres, vertikale das eines Orcs. Beides fand sich zuhauf im Schaft von Donnerschlag, und Durotan wusste, dass die zahlreichen vertikalen Kerben in den Speer geritzt worden waren, wann immer ein Feind ehrenvoll gekämpft hatte und sauber gestorben war. So war es Sitte bei den Frostwölfen.
Der Orc-Häuptling deutete mit Donnerschlag auf einen Grollhuf. Worte wären über das beständige Poltern nur schwer verständlich gewesen, also blickte Garad sich um, während die anderen Frostwölfe ihre eigenen Waffen hoben und damit anzeigten, dass sie das ausgewählte Ziel gesehen hatten.
Da die Herde dicht zusammengedrängt dahinstürmte, würden die Tiere in der Mitte überleben – sofern sie nicht ins Straucheln gerieten. Die steten Schritte der ausgewählten Kuh führten leicht vom Großteil der Herde fort, und ihr Bauch war nicht durch ein Kalb angeschwollen; kein Frostwolf würde einen schwangeren Grollhuf töten – schon gar nicht, da ihre Zahl doch mit jedem zunehmend harten Winter dahinschwand. Auch würden die Jäger nur so viele Tiere töten, wie sie zurück zum Frostfeuergrat transportieren oder an ihre Wolfsgefährten verfüttern könnten, um ihnen für ihre Hilfe bei der Jagd zu danken.
„Sollen die wilden Wölfe sich für ihr Abendessen selbst anstrengen“, hatte Garad einmal gesagt, während er Eis hinter den Ohren kraulte. „Wir Frostwölfe sorgen für die unseren.“
Das war nicht immer so gewesen. Garad hatte Durotan erzählt, dass der Klan in seiner Jugend zum Dank an die Geister mindestens einen, oft sogar mehrere Grollhufe geopfert hatte. Diese Kreaturen waren liegen geblieben, wo sie gefallen waren, um als Nahrung für die wilden Tiere und Aaskrähen zu dienen. In Durotans Tagen hatte es solche Verschwendung nur noch selten gegeben; Nahrung war zu wertvoll, um sie zu vergeuden.
Garad beugte sich nach vorne, und Eis, der dieses Zeichen zum Angriff kannte, senkte den Kopf und stürmte vor.
„Trödel nicht!“ Der fröhliche Ruf stammte von Orgrim, dessen eigener Wolf, Beißer, so schnell an Durotan vorbeiraste, wie ein Pfeil von der Sehne zischt. Durotan bedachte seinen Freund mit einem üblen Schimpfnamen, dann schnellte auch Scharfzahn vor, begierig, seinen Hunger zu stillen.
Die Wölfe und ihre Reiter fielen über die wehrlose Kuh her. Wäre sie nur ein paar Schritte näher am Rest der Herde gewesen, hätte die schiere Zahl der anderen Tiere sie vielleicht geschützt, aber obwohl sie flehend brüllte, stürmte die Herde nur noch schneller davon. Der Bulle an der Spitze hatte sie aufgegeben, um den Rest außer Reichweite der furchteinflößenden Orcs zu führen und zu verhindern, dass noch mehr aus seiner Herde fielen. Die Grollhufe waren nicht dumm, und die Kuh erkannte schnell, dass dies ein Kampf war, den sie allein gewinnen – oder verlieren – würde.