„Einst schickten uns die Geister ein Zeichen in Form eines Rothähers“, erklärte Durotan. Ihm fiel selbst auf, wie entmutigt er klang, wie verzweifelt er sich an die kleinste Hoffnung klammerte. „Drek’Thar, hat einer deiner Schamanen etwas gesehen, das uns helfen könnte? Ich meine damit keine Visionen oder Botschaften, sondern irdische Zeichen. Ameisen oder Vögel, die in eine bestimmte Richtung ziehen, oder bestimmte Muster im Wachstum der Pflanzen?“
Drek’Thar seufzte und rieb sich die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. Palkar antwortete an seiner Stelle. „Wir haben genau darauf geachtet, welche Pflanzen wachsen, da wir die Kräuter für Medizin benötigen. Wir haben … Nun, es ist beinahe, als wäre noch immer Winter. Oder vielleicht Herbst. Mir sind jedenfalls Pilze aufgefallen, und die wachsen sonst nur im Herbst.“
Einen Moment lang fragte sich Durotan, warum Pilze, die Feuchtigkeit brauchten, ausgerechnet dann wuchsen, wenn es nicht regnete, aber er verdrängte den Gedanken. Die Schamanen schienen sich nicht weiter deswegen zu sorgen, und sie verstanden viel mehr von solchen Dingen als er.
„Mir ist egal, wann wo welche Pilze wachsen, solange sie essbar sind“, warf Orgrim ein. „Also, sind sie essbar?“
Palkar schüttelte den Kopf. „Pilze wie diese habe ich noch nie gesehen. Ich würde es nicht riskieren.“
Ein Gefühl der Enttäuschung erfüllte Durotan. Da gab es nur eine Art von Pflanze, die wuchs, und dann war sie vermutlich giftig. „Nun“, sagte er. „Wenn hier etwas wachsen kann – selbst, wenn es uns nicht von Nutzen ist – dann wächst vielleicht auch etwas anderes.“
Nichts wuchs. So kam es, dass Durotan ohne Zögern eine Jagdgruppe zusammenrief, als ein Vogelschwarm in nordöstlicher Richtung über dem Lager hinwegflog. Vielleicht hatten die Tiere dort Wasser entdeckt, und Wasser könnte auch größere Beute angezogen haben. Falls nicht, sollten die Bogenschützen zumindest ein paar Vögel abschießen können, um sie über dem Feuer zu braten. In jedem Fall war dieser Schwarm das hoffnungsvollste Zeichen, das die Frostwölfe seit langer Zeit gesehen hatten.
„Ich komme mit dir“, sagte Draka, als er ihr sein Vorhaben erklärte.
„Diesmal nicht“, entgegnete er entschieden.
„Ich kann mit jedem deiner Krieger mithalten“, sagte sie, und das stimmte. Sie besaß vielleicht nicht die Körperkraft eines männlichen Orcs, aber sie war stärker als jede Frau, die er kannte, und schneller als jede Schlange.
Sie lagen auf ihren Schlaffellen, und Durotan rollte sich auf die Seite, um sie anzusehen. „Draka“, wisperte er. „Ich weiß, dass du auf dich aufpassen kannst. Und normalerweise würde ich sagen ‚Weib, du wirst jagen, bis das Kind kommt, und dann wirst du ihm den Speer weiterreichen‘.“
Sie lachte. „Das gefällt mir. Ich bin sicher, sie würde den Speer nehmen und sofort einen Talbuk damit erlegen.“
„Daran zweifle ich nicht.“ Durotan lächelte auf sie hinab, aber dann wurde er wieder ernst. „Nur gibt es leider keinen Talbuk, den sie – oder er – erlegen könnte. Draka, nichts an unserer Situation ist normal. Du bist die einzige Frau im Klan, die schwanger ist. Ich mache mir schon genug Sorgen, dass ich das Kind wegen giftigem Wasser oder mangelnder Nahrung verlieren könnte. Aber der Gedanke, dass du von einem Rotläufer angegriffen wirst …“
„Ich verstehe deine Angst, und ich teile sie. Dies sind beunruhigende Zeiten. Du hast recht – ich sollte nicht den Kampf suchen, bis unser Kind geboren ist.“
Eine Woge der Erleichterung schwappte über ihn hinweg. „Dann kommst du also nicht mit.“
„Ich werde dich als Bogenschützin begleiten. Und ich werde auch nur aus der Ferne angreifen, versprochen.“
Er zögerte. Einen Moment lang war er wütend, aber dann schüttelte er den Kopf und begann zu lachen.
Der Vorschlag einer Jagd wurde positiv aufgenommen, und Durotan versammelte eine Gruppe von zehn Orcs, die Hälfte davon Bogenschützen – schließlich könnte es sein, dass sie wirklich nur auf Vögel stießen. Dennoch war das Lager von Lachen und Geplauder erfüllt, als sie sich zum Aufbruch bereitmachten.
„Es ist fast wie in alten Zeiten“, befand Orgrim. Er beobachtete ein paar Jäger, die sich gerade von ihren Lieben verabschiedeten, und zwar nicht mit grimmiger, entschlossener Miene, sondern mit einem breiten Grinsen.
„Nichts ist mehr wie in alten Zeiten“, entgegnete Durotan. „Trotzdem ist es schön, so etwas zu sehen.“
Sein Freund blinzelte zur Sonne hoch. „Wir haben hier mehr Sonne als noch am Frostfeuergrat“, brummte er. Durotan war das ebenfalls schon aufgefallen, aber er hatte sich bislang eines Kommentars enthalten. Was gab es dazu auch zu sagen?
Trotz der freudigen Stimmen ringsum drohte ihn einen Moment lang Verzweiflung zu überkommen. War das alles, was das Leben noch für sie bereithielt? Von einem Tag zum nächsten durchzuhalten? Er erinnerte sich an eine Kindheit voller Geschichten, an Spiele und tiefen Schlaf, an einen vollen Bauch und vier echte, volle Jahreszeiten. Es war eine gute Kindheit gewesen. Doch was erwartete seinen Sohn – oder seine Tochter? Würde er oder sie überhaupt lange genug leben, um zu spielen? Er erwähnte es Draka gegenüber zwar nicht, aber er machte sich beständig Sorgen um sie. Er hatte Angst, dass sie nicht genug aß oder nicht das Richtige aß, dass sie nicht genug sauberes Wasser trank … dass sie überhaupt nicht genug von irgendetwas hatte.
Durotan hatte Gul’dans Angebot abgelehnt, weil er wusste, dass sein Versprechen von einem besseren Leben einen hohen Preis, aber keine Garantien barg. Sogar Garona hatte sie vor ihrem Meister gewarnt. Doch was hatten sie hier für ein Leben? Gab es hier etwa Gewissheit, und hatten sie nicht auch schon einen hohen Preis bezahlt?
Die Aussicht auf Fleisch für ihre Kochtöpfe erfüllte die Frostwölfe mit freudiger Erwartung, selbst wenn es nur Vogelfleisch war. Nahrung war inzwischen so knapp geworden, dass es nicht mehr nur um Hunger ging; es ging um Leben oder Tod. Durotan vermutete, dass viele der älteren Orcs den Jüngeren im Geheimen einen Teil ihres Essens gaben und dadurch selbst noch schwächer wurden. Viele von ihnen schienen nur aus Haut und Knochen zu bestehen, und allein Wasser und Willenskraft hielten sie noch am Leben.
Doch das war nicht genug, nicht einmal für einen Frostwolf. Im Gegensatz zu Tieren oder Pflanzen gab es mehr als genug Steine, um die Toten zu begraben, und diese bittere Ernte wuchs mit jedem verstreichenden Tag. Seit sie die Zuflucht erreicht hatten, waren in dem vormals ebenen Gebiet siebzehn Grabhaufen emporgewachsen. Durotan schüttelte die Schwermut ab. Das würde ihn nicht weiterbringen. Davon abgesehen erwartete sie womöglich reiche Beute, wenn sie dem Vogelschwarm folgten. Schließlich war der Frühling doch ein Symbol dafür, dass es immer Hoffnung gab.
Bei dem Gedanken fiel ihm etwas ein. „Sag ihnen, sie sollen ihre Wasserschläuche füllen, bevor wir aufbrechen“, wies er Orgrim an. „Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass wir unterwegs frisches Wasser finden.“
Sein Freund nickte und lenkte Beißer in Richtung der Gruppe von Wölfen und Jägern. Die meisten von ihnen gingen sogleich in Richtung der Quelle davon, und Orgrim blieb hinter ihnen zurück, um auf Durotan zu warten, während dieser seinerseits auf seine Gefährtin wartete.
Sie hatte Schwierigkeiten mit Eis: Der mächtige Wolf saß auf den Hinterbeinen und weigerte sich, sie aufsitzen zu lassen. Draka blickte zu Durotan hoch, als er herüberkam, und die Frustration stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Wärst du das“, sagte sie, „würde ich dir jetzt eins hinter die Ohren geben.“
„Wäre ich es, wäre das auch kein Problem.“ Frostwölfe gingen meist recht grob miteinander um, und selbst eine Bekundung der Zuneigung konnte blaue Flecken hinterlassen. Doch nie würden sie die großen Wölfe schlagen, die eine so enge Verbindung mit ihnen eingingen.
„Vielleicht kannst du ihn ja zur Vernunft bringen“, murmelte Draka, als Durotan vor den Wolf trat, der seinem Vater vom Welpenalter an gedient hatte. Er kraulte ihn hinter den Ohren, aber Eis drehte mit einem Winseln den Kopf weg und schnüffelte angespannt in die Luft.