Durotan streckte noch einmal die Hand aus, um ihn zu streicheln, aber dann erstarrte er mitten in der Bewegung. Er erinnerte sich an das fürchterliche Heulen der Wölfe in jener Nacht, als der Altvaterberg einen Fluss aus feurigem Blut gespien hatte und ihre alte Heimat zerstört worden war.
Er wirbelte herum und blickte zu den anderen Wölfen des Rudels hinüber. Sie alle machten einen unruhigen Eindruck. Einige kauerten ebenso stur wie Eis auf den Hinterbeinen, sodass ihre Reiter nicht aufsitzen konnten; andere, die bereits zum Rand des Feldes getrottet waren, kamen nun zurückgerannt, die Ohren flach angelegt, ohne auf die Orcs auf ihrem Rücken zu achten, die ihnen befahlen, stehen zu bleiben oder umzudrehen.
„Die Erde ist hungrig!“
Der unheimliche, schauderhafte Schrei hatte kaum Ähnlichkeit mit Drek’Thars Stimme. Der alte Schamane hatte sich vor ein paar Stunden in seine Hütte zurückgezogen, angeblich, weil ihm unwohl war und er sich ausruhen wollte. Doch jetzt stolperte er unbegleitet durch das Lager und schrie immer wieder diesen einen Satz. „Die Erde ist hungrig! Die Erde ist hungrig!“
Eis jaulte und kauerte sich, am ganzen Leib zitternd, auf dem Boden zusammen, während Durotan zu den Jägern bei der Quelle eilte. Er formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllte: „Kommt zurück! Kommt sofort zurück!“
Ein paar der Orcs wendeten ihre Wölfe und ritten rasch zur Zuflucht zurück. Andere versuchten, es ihnen gleichzutun, mussten aber feststellen, dass ihre Tiere ebenso wie Eis vor Angst wie erstarrt waren.
„Die Erde ist hungrig!“
Und genau so war es. Durotan und der Rest des Klans konnten nur voll hilflosem Grauen dastehen, während ein mahlendes Geräusch die Luft erfüllte. Es klang beinahe wie ein … Kauen.
Dann verschwand von einer Sekunde zur nächsten der Boden unter vier Jägern und ihren Reittieren. Dort, wo sie gerade noch gestanden hatten, klaffte nun ein perfekter runder Kreis in der Erde, aus dem die Schreie der Sterbenden emporhallten.
Die Erde war hungrig und hatte sie verschlungen.
21
Jene, die der Unglücksstelle am nächsten standen, eilten herbei, um zu helfen, doch das Loch wurde rasch breiter und verschlang noch mehr Erde und Gras und Orcs und Wölfe. Durotan sah, wie Grukag sich einen Moment lang am Rand festklammerte, seine Augen vor Panik geweitet, bevor der Boden unter seinen Fingern zerbröckelte. Das Loch klaffte auf wie der gewaltige Schlund einer verborgenen Kreatur.
Jene, die noch Gelegenheit dazu hatten, stoben in alle Richtungen davon und flohen vor dem wachsenden Krater. Noch immer wurde er breiter und breiter, und noch immer verschwanden Opfer in seinen Tiefen. Obwohl sich der Abgrund in einiger Entfernung von der Zuflucht aufgetan hatte, sah Durotan, dass auch das Lager selbst in Gefahr war, falls sich der Krater im selben Tempo weiter ausdehnte. Andere erkannten die Bedrohung ebenfalls. Sie rissen sich aus ihrer Schreckensstarre los, wirbelten herum und rannten weit weg.
Scharfzahn zitterte, aber er unterdrückte seinen natürlichen Drang zu flüchten, während Eis noch immer zusammengekauert dalag und sich nicht bewegen wollte. Also streckte Durotan die Hand aus und zog seine schwangere Frau zu sich auf Scharfzahns Rücken hoch. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Wolf seines Vaters zurückzulassen, auf dass er seinen Mut wiederfand – oder starb.
Während sie davonritten, blickte Durotan sich um, und er sah, dass neben Eis noch andere vor Furcht wie erstarrt waren. Sein Klan war tapfer und begegnete jedem Feind mit Mut. Doch wer hätte je damit rechnen können, dass die Erde unter ihren Füßen, die Erde, aus der ihre Nahrung spross, zum Feind würde?
Draka klammerte sich an ihm fest, bis er eine sichere Entfernung erreicht hatte, dann hob Durotan sie von Scharfzahns Rücken. Sie protestierte nicht, ließ sich wortlos an der Flanke des Wolfes herabgleiten und landete leichtfüßig auf dem Boden. Das Leben ihres Kindes war für sie wichtiger als ihr Stolz. Doch als ihr Gefährte seinen Wolf herumdrehte, um zurückzureiten und den anderen zu helfen, rief sie ihm nach: „Kraft und Ehre!“
Obwohl der Klan sie einst verbannt hatte, war sie mehr Frostwolf als jeder andere, den Durotan kannte. Er würde zu ihr zurückkehren, und zu ihrem Kind. Wild entschlossen trieb er Scharfzahn an, seine Instinkte zu ignorieren, und das Tier gehorchte. Zunächst ritt Durotan zu Kagra, die Nizka an sich presste, und raste dann mit den beiden zurück auf festen Boden. Auch andere überwanden ihre Furcht und folgten dem Beispiel ihres Häuptlings, indem sie den übrigen Mitgliedern des Klans zu Hilfe eilten.
Doch der Krater klaffte immer weiter, hungrig nach mehr Opfern. Durotan erinnerte sich daran, wie ein Orc aus einem anderen Klan einmal die Bewegung des Meeres beschrieben hatte: die Gezeiten, die vorströmten und sich dann wieder zurückzogen. Im Gegensatz dazu bewegte sich diese gnadenlose Naturgewalt nur in eine Richtung – nach außen.
Sie war hungrig.
Er griff nach weiteren Frostwölfen, und Scharfzahn rannte hin und her, ohne zu ermüden. Als er das Tier gerade zum wiederholten Mal in Richtung der Zuflucht lenkte, erreichte der Gesang der Schamanen einen schrillen Höhepunkt. Drek’Thar warf sich ausgestreckt auf den Boden und rührte sich nicht mehr, aber Durotan hatte keine Ahnung, ob das nun etwas Gutes war oder etwas Schlechtes.
Vor ihm rannte ein kleiner Junge – Kelgur. Der Häuptling beugte sich vor, packte das Kind mit einem mächtigen, braunen Arm und legte ihn vor sich über den Rücken des Wolfes. Kelgur gab keinen Laut von sich; der leere Ausdruck seiner weiten Augen zeigte, dass er viel zu viel Angst hatte, um zu weinen.
Und dann … ebbte das grässliche, rhythmische Kaugeräusch ab. Plötzlich waren nur noch der Singsang der Schamanen und das Geheul der Wölfe zu hören, und als kurz darauf auch die Tiere verstummten, erfüllten allein die gesungenen Gebete die Luft – die Bitte, dass der Geist der Erde sich beruhigen und den Frostwölfen ihr Leben und ihre Heimat lassen möge.
Durotan warf Kelgur in Kagras Arme und blickte über die Schulter zurück. Seine Haut war ganz klebrig vor Schweiß, seine Lungen pumpten wie ein Blasebalg, keuchend vor Erschöpfung und ja, auch vor Angst.
Niemand stürzte mehr in den titanischen Schlund. Der Hunger der Erde schien gestillt.
Leise Seufzer der Erleichterung erklangen, konterkariert durch bittere Schluchzer der Trauer. Durotans Atem beruhigte sich, aber ihm brach erneut der Schweiß der Anspannung aus, als er sah, dass nur wenige Fuß festen Bodens zwischen dem Rand des Kraters und den äußeren Felsen der Zuflucht lagen.
„Seile!“, rief er. „Wir müssen unsere Brüder retten, die in das Loch gefallen sind.“
„Nein!“, brüllte Drek’Thar, während er sich von Palkar aufhelfen ließ. „Durotan! Wo ist er? Er darf niemanden in die Nähe des Abgrunds lassen!“
Durotan eilte mit Scharfzahn zu den Schamanen hinüber. „Aber was, wenn jemand überlebt hat?“
Drek’Thar schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er mit gebrochener Stimme. „Selbst, falls noch jemand lebt, ist er bereits tot. Der Geist der Erde hat mir erklärt, dass sein Hunger zu groß war. Er verhungert … so wie wir. Die Frostwölfe sind zu tief gestürzt, und wer überlebt hat, wurde vom Geiste des Wassers davongetragen, an einen dunklen Ort im Herzen der Welt. Wir können sie nicht mehr retten. Sie sind jetzt eins mit den Geistern von Erde und Feuer. Das sagt mir der Geist der Erde, und ich glaube ihm.“
Durotan rutschte von Scharfzahns Rücken, dann fragte er, so leise, dass nur der alte Schamane ihn hören konnte: „Hat sich der Geist der Erde jetzt also auch der Zerstörung zugewandt? So wie der Geist des Feuers?“