Er musste an etwas denken, was Draka in der Nacht der Sonnenwende gesagt hatte, als sie aus dem Exil zurückgekehrt war. Dort draußen herrscht ein Leid, das es hier nicht gibt. Noch nicht. Krankheit. Abscheulichkeit. Die Dinge sterben nicht nur, sie werden verzerrt, bevor sie sterben.
Drek’Thar tastete nach ihm, und Durotan nahm seine Hand. „In jener Nacht sprach der Geist des Feuers zu mir“, sagte er. „Ich hörte seinen Schrei noch rechtzeitig, sodass wir mit dem Leben davonkamen, wenn wir auch unsere Lebensart einbüßten. Doch in jüngster Zeit sind die Stimmen der Geister immer schwächer geworden. Ich kann sie nicht mehr spüren, wenn ich sie anrufe. Die Erde hat versucht, uns zu warnen. Mit aller Kraft hat sie es versucht, aber … ich konnte sie einfach nicht hören …“
Doch die Wölfe hatten sie gehört. Als Wesen der Wildnis waren sie den Geistern näher als ein Orc es je sein könnte. Sie hatten es gewusst, dieses Mal ebenso wie beim letzten. Durotan schwor sich, dass er von nun an ebenso auf die Warnungen der Wölfe achten würde wie auf die der Schamanen.
„Was ist mit ihnen geschehen, Drek’Thar?“, wollte er wissen. „Mit dem Feuer, der Erde? Sind sie … sind sie tot?“
Der Schamane schüttelte den Kopf. „Nein, nicht tot. Aber stumm. Sie leiden. Selbst die Stimme des Wassers ist leise, und der Geist der Luft … er leidet großen Schmerz.“
Ein Schauder rann über Durotans Rücken. Wasser. Wie könnte irgendetwas ohne Wasser überleben? „Was hast du gerade über den Geist des Wassers gesagt? Dass er die abgestürzten Frostwölfe davongetragen hat, an einen dunklen Ort tief unter der Erde?“
„Wasser“, murmelte Drek’Thar. „Wasser. Er war es, der die Erde hungrig machte. Der Geist des Wassers hat von der Erde gezehrt, unter uns, unter der Oberfläche, und darum brauchte die Erde Nahrung …“
„Die Quelle“, murmelte Durotan. Jetzt, wo es zu spät war, erkannte er, was es mit den Pilzen auf sich hatte, die so plötzlich in feuchten Gebieten aus dem Boden gesprossen waren. Der Geist des Wassers hatte versucht, sie zu warnen, ihnen zu sagen, was er der Erde antat. Doch sie hatten seine Warnung nicht deuten können, und darum hatte der Klan nun weitere Frostwölfe verloren. Gemeinsam mit ihren geliebten Reittieren waren sie dem bizarren Appetit der Erde zum Opfer gefallen. „Der Quelle können wir uns dann wohl auch nicht mehr nähern, oder?“
„Loch“ war alles, was Drek’Thar hervorbrachte, aber dieses eine Wort verriet Durotan alles, was er wissen musste.
Orgrim war inzwischen an die Seite seines Häuptlings und Freundes getreten, und auch Draka war herübergekommen. „Weiter im Norden gibt es Wasser“, erklärte Orgrim. „Schnee.“
„Niemand überlebt im Schnee“, entgegnete Draka.
Durotan dachte angestrengt nach. Was wusste er über den Norden? „Es gibt Tiere, die dort leben“, brummte er. „Also muss es auch etwas geben, wovon sie sich ernähren.“
„Andere Tiere“, sagte Orgrim.
Durotan nickte. „Wo man den Fuchs findet, findet man auch Hasen. Mäuse. Und wo man sie findet, findet man Wurzeln und … und Moos. Und Wasser. Wasser, in dem Fische leben. Wir werden überleben.“
Palkar hatte während ihrer Unterhaltung leise mit Drek’Thar gesprochen, und der ältere Schamane wirkte nun ruhiger, gefasster – wieder mehr wie er selbst –, als er das Wort ergriff.
„Ja“, sagte er. „Wir ziehen nach Norden. So weit, wie es nur nach Norden geht. Zum Sitz der Geister, wohin schon vor langer, langer Zeit ein Häuptling der Frostwölfe wanderte. Wir dürfen nicht nach Süden gehen.“ Drek’Thar schüttelte entschieden den Kopf. „Die Geister haben den Süden aufgegeben. Sie haben sich weit nach Norden zurückgezogen, und wir müssen es ihnen gleichtun.“ Er drehte sein blindes Gesicht in Durotans Richtung. „Mein Häuptling … Vielleicht können wir ihnen helfen. Sie heilen.“
Bei diesen Worten flutete Hoffnung in Durotans Herz. Die Geister heilen? Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass die Geister selbst Hilfe bräuchten. Andererseits – Drek’Thar beharrte darauf, dass sie Qualen litten …
„Was könnten wir schon tun, um ihnen zu helfen?“
„Ich weiß es nicht. Aber falls es uns gelingt …“
„Dann“, beendete Durotan den Satz, seine Stimme heiser vor Ehrfurcht, „können sie vielleicht die Welt heilen.“
22
Dank der Schamanen und ihrer Bemühungen, den Geist der Erde zu besänftigen, hatte der Großteil des Klans überlebt. Insgesamt waren sieben Orcs gestorben, und glücklicherweise hatten keine Kinder zu den Opfern gezählt. Es war wohl auch Glück, dass keine weiteren Laute aus dem Krater heraufgehallt waren. Hätten sie Hilfeschreie aus der Tiefe gehört, hätte Durotan vermutlich weder die anderen noch sich selbst von einem Rettungsversuch abhalten können.
Der Schlund klaffte noch immer weit, ein gigantisches Grab unmittelbar neben dem Ort, den die Draenei und Draka Zuflucht genannt hatten; dem Ort, der viele Monate lang das Zuhause der Frostwölfe gewesen war. Doch nun mussten sie zum wiederholten Mal ihre Heimat hinter sich lassen.
Hin und wieder dachte Durotan noch immer über seine Entscheidung nach, Gul’dan die Gefolgschaft zu verweigern. Er wusste, dass seine Leute hinter vorgehaltener Hand darüber tuschelten, aber jetzt hatte er eine Antwort für sie. Nachdem die erste Woge der Trauer überwunden war und sie sich halbwegs von der Tragödie erholt hatten, rief er sie alle zusammen und verkündete ihnen, was Drek’Thar gesagt hatte.
„Unser weiser Schamane glaubt, dass wir nicht mehr in der Lage sein werden, die Geister zu hören, falls wir nach Süden gehen oder uns der Horde und dem Hexenmeister Gul’dan anschließen würden“, erklärte er der lauschenden Menge. „Aber wenn wir nach Norden ziehen, zum Sitz der Geister, können wir ihnen vielleicht helfen.“
„Wir? Den Geistern helfen?“, fragte Kagra. „Warum sollten sie unsere Hilfe brauchen?“
„Diese Katastrophen – die harten Winter, der Altvaterberg, der Krater … wir dachten, sie würden uns treffen, weil sich die Geister gegen uns gewandt haben. Aber das ist ein Irrtum. All diese Dinge, sie sind ein Hilferuf. Die Geister sind krank. Sie verlieren die Kontrolle.“ Er atmete tief ein. „Drek’Thar hält es für möglich, dass sie sterben, ebenso, wie das Gras und die Bäume sterben.“
„Was?“, entfuhr es Shaksa. „Wie kann das sein? Sie sind die Geister der Elemente! Sie können nicht sterben!“
Drek’Thar pochte mit seinem Stab auf den Boden. „Hört mir bitte zu!“ Er wartete, bis der Klan verstummt war, dann fuhr er fort: „Ich bin nur ein einfacher Schamane. Den Großteil meines Lebens habe ich mit offenem Herzen gelauscht, während die Geister zu mir sprachen. Sie warnten mich vor dem Feuerfluss, und auch heute warnten sie mich, nur leider nicht früh genug. Wie zuvor schon der Geist des Feuers sind nun auch Erde und Wasser krank geworden. Und ebenso wie das Feuer es tat, manifestieren sie sich nun in vergifteter, zerstörerischer Form. Sie bitten uns um unsere Hilfe.“
„Aber … der Norden“, murmelte jemand.
Durotan trat wieder vor. „Wenn Tiere im hohen Norden überleben können, dann können es auch die Frostwölfe“, erklärte er. „Wir werden einen Weg finden. Es wird nicht einfach, aber uns bleibt keine andere Wahl. Wir können nicht hierbleiben, und es wäre ein Fehler, nach Süden zu gehen.“
Er blickte von einem Gesicht zum nächsten, während er mit leiser Stimme weitersprach. „Ich weiß, dass eure Herzen schwer sind. Ich weiß, dass wir während der letzten paar Jahre nichts außer Verlusten erlebt haben. Immer wieder müssen wir weiterziehen und von vorne beginnen, jedes Mal mit noch weniger Freunden und Gefährten und Kindern an unserer Seite. Ich würde mein Leben geben, falls ich euch einen Ort schenken könnte, an dem ihr sicher leben könntet und versorgt wärt. Aber wie soll ich jemandem vertrauen, dem die Geister nicht trauen? Und ich kann nicht glauben, dass sich die Frostwölfe von den Geistern abwenden, wenn sie um unsere Hilfe bitten.“