Die anderen blickten aus dunklen, traurigen Augen zu ihm hoch, aber er sah, wie einige Köpfe zustimmend nickten. „Gut. Dann wollen wir unsere Sachen zusammenpacken. Morgen früh brechen wir nach Norden auf. So weit nach Norden, wie es nur nach Norden geht, zum Sitz der Geister, so, wie es vor langer Zeit schon einmal ein Häuptling der Frostwölfe getan hat. Und wie immer werden wir diese Reise mit Ehre antreten.“
In dieser Nacht bereitete sich der Klan darauf vor, zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre seine Heimat zu verlassen. Wie viele Lok’vadnods, so fragte Durotan sich brütend, waren wohl schon geschrieben worden, seit er das Amt des Häuptlings übernommen hatte? Wie viele Frostwölfe waren gestorben, seit der Winter zum ersten Mal zu lange angehalten hatte?
Er wusste, dass er sich beschäftigen musste, wenn er nicht zu tief in diese düstere Stimmung verfallen wollte, und zum Glück gab es mehr als genug zu tun. Zunächst wollte er ein Treffen mit seinen Beratern abhalten, um über eine Strategie zu entscheiden. Zu seiner Überraschung erwies sich Geyah dabei als größte Fürsprecherin seines Plans.
„Dein Vater tat immer, was nötig war, um den Klan zu schützen“, sagte sie. „Außerdem sind wir Frostwölfe traditionell mit dem Norden verbunden. Der Sitz der Geister wird oft in den alten Schriftrollen erwähnt, und auch, wenn alle Orcs die Geister verehren, hatten wir doch immer eine besondere Beziehung zu ihnen. Ich glaube, wir werden uns noch freuen, dass wir diese Wanderung unternommen haben.“
Drek’Thar nickte zustimmend. „Ja, sofern wir den Geistern helfen können und sie uns. Wir brauchen beide die Hilfe des jeweils anderen.“
Orgrim seufzte. „Dieser Ort sollte nie unser neues Zuhause sein. Ich weiß zwar nicht, wie wir im Norden überleben sollen, aber schlimmer als ein vergifteter See und eine hungrige Erde kann es wohl kaum werden.“
„Die meisten Klans haben eine angestammte Heimat“, warf Draka ein. „Aber nicht alle. Manche Klans sind Nomaden, so wie wir es laut den Schriftrollen selbst einmal waren. Sie folgen den Herden ihrer Beutetiere durch ganz Draenor. Ich bin ein paar von ihnen begegnet, und ich will euch gerne zeigen, wie sie auf ihren Wanderungen leben.“
Geyah warf ihr einen Blick zu. „Du bringst mich da auf eine Idee“, sagte sie. „Ich werde die Schriftrollen konsultieren. Vielleicht können sie uns ja etwas über unser nomadisches Erbe verraten.“
Dank Drakas Erfahrung und Geyahs Nachforschungen hatte der Klan bald schon eine ganze Reihe nützlicher Ratschläge für die Reise. Die Wissenshüterin fand eine Schriftrolle mit Zeichnungen, auf denen dargestellt war, wie man mithilfe dünner Baumstämme Zelte bauen konnte, oben zusammenlaufend, unten breit. Eine zweite Rolle barg zudem Entwürfe für noch größere Behausungen, in denen mehrere Orcs Unterschlupf finden würden.
„Sie stellten die Baumstämme so auf, dass ihre Spitzen sich berührten, und hüllten sie dann in Tierhäute“, erklärte Geyah Durotan, als er die Zeichnungen betrachtete.
„Ja!“, nickte Draka aufgeregt. „Ich habe solche Zelte schon gesehen! Und einige der Pfähle – oder die Stoßzähne großer Tiere, die manchmal auch für diesen Zweck benutzt werden – erfüllen noch eine zweite Aufgabe, während die Klans ihrer Beute folgen.“ Sie griff nach zwei kleinen Zweigen, um ihnen zu demonstrieren, wovon sie sprach. „Sie nehmen zwei Pfähle und legen sie nebeneinander, ungefähr so, dass sie sich oben berühren und nach unten hin voneinander fortweichen, wie ein Dreieck. Den schmalen Teil legen sie einem Wolf um den Hals, und am anderen Ende spannen sie Tierhäute zwischen den Pfählen, um darauf zu transportieren, was immer sie mit sich tragen.“
„Warum schnallen sie ihre Habseligkeiten nicht einfach auf die Wölfe?“, fragte Durotan.
„Das Gewicht ist besser verteilt“, erklärte Draka. „Außerdem kann der Wolf so auch Dinge ziehen, die sich ihm nur schwer auf den Rücken schnallen ließen. Auch auf schwierigem Untergrund wie Felsen oder Schnee tut man sich mit dieser Methode leichter.“
Orgrim betrachtete erst die Zweigkonstruktion, dann die Schriftrolle, dann die zwei Frauen. „Durotan“, sagte er, „solange der Klan diese beiden hat, wird uns niemand vermissen, falls wir in der Schlacht fallen.“
„Und ich kann dir nicht einmal widersprechen“, murmelte Durotan.
Bewaffnet mit diesem neuen Wissen ging der Häuptling der Frostwölfe von einer Familie zur nächsten und half jeder von ihnen eine kurze Zeit lang. Er lachte über die kleinen Witze der Kinder, gab Ratschläge, welche Waffen mitgenommen werden sollten und welche bereits so beschädigt waren, dass man sie zurücklassen könnte, und er half ihnen, Tragepfähle für die Reise zurechtzuschneiden.
Den Wölfen gefiel es nicht, die Pfähle an ihre Körper geschnallt zu bekommen, aber sie fügten sich widerwillig in ihr Schicksal. Als sie die Zuflucht schließlich verließen, kamen die Frostwölfe anfangs nur sehr langsam voran, was aber vor allem der Sorge geschuldet war, dass sich der scheinbar so feste Boden unter ihren Füßen plötzlich auftun und sie verschlingen könnte.
Doch nichts dergleichen geschah, und je weiter sie sich von der so unpassend betitelten Zuflucht entfernten, desto leichter schlug Durotans Herz. Im Gegensatz zu ihrer Flucht vom Frostfeuergrat fühlte sich die Abreise von diesem Ort richtig an. Andererseits hatten sie damals auch um ihr Leben rennen müssen und nur ihre wertvollsten Habseligkeiten mitnehmen können. Sie hatten eine Heimat verloren, die sie niemals verlassen wollten, und das auch noch, als der Winter bevorstand.
Jetzt hingegen verließen sie ihr Lager aus freien Stücken – ein Lager, in dem sie sich ohnehin nie wirklich zu Hause gefühlt hatten. Sie hatten Zeit gehabt zu packen, und sie wussten nun von neuen Möglichkeiten, ihre Besitztümer zu transportieren. Zudem waren die Tage warm und lang, was ein deutlicher Vorteil gegenüber der eisigen Dunkelheit ihrer ersten Flucht war. Der Klan war zwischenzeitlich stark geschrumpft, und während die Verstorbenen natürlich schmerzlich vermisst wurden, bedeutete das aber auch, dass jeder auf einem Wolf reiten konnte und noch genügend Tiere übrig waren, um – wenn auch mit protestierendem Jaulen – die Pfahlschlitten zu ziehen. Doch das Wichtigste, so fand Durotan, war jedoch, dass sie ein Ziel hatten. Sie reisten einem Ort entgegen, nicht einfach nur von einem fort.
Während er in grüblerischem Schweigen neben Draka dahinritt, füllte sich sein Geist mit Gedanken über die Zukunft des Klans. Am Rand der Welt, dem echten, endgültigen Norden, gab es angeblich nur Schnee und Eis. War das der Sitz der Götter? Falls die Geschichten stimmten, könnte kein Orc in diesen Gefilden überleben, sich höchstens kurzzeitig dort aufhalten. Doch südlich dieser Welt aus Eis und Schnee sollte es einen Ort geben, der Tundra genannt wurde. Dort könnten sie sich vielleicht ansiedeln und mit dem Segen der Geister ein neues Zuhause aufbauen.
Im Lauf der Wochen wurden die Wälder ringsum immer lichter, bis schließlich überhaupt keine Bäume mehr über den Frostwölfen aufragten. Als Durotan sich umblickte, stellte er fest, dass es eine klare Grenze zu geben schien, hinter der keine Bäume mehr wuchsen – fast, als würden sie davor zurückschrecken, jenseits dieser Linie Wurzeln zu schlagen. Er fragte sich, ob es wohl ein Fehler war, diese augenscheinliche Grenze zu überschreiten, aber Drek’Thar versicherte ihm, dass sie weitergehen mussten.
„Was sollen wir im Winter verbrennen, wenn es keine Bäume gibt?“, fragte Orgrim.
„Wir werden schon herausfinden, was brennt und was nicht“, beruhigte ihn Drek’Thar. „Die Geister werden uns lenken.“ Von allen Frostwölfen schien er der einzige zu sein, der entschlossener und sogar lebenslustiger zu werden schien, je näher sie dem fernen Sitz der Geister kamen. Durotan verstand es nicht, aber er akzeptierte es, und oft war es der Gedanke an die Zuversicht des Schamanen, die ihn des Nachts einschlafen ließ.