Er versuchte es mit einer anderen Taktik und begann, seine Mutter über die Geschichte des Frostwolfhäuptlings und des Steinernen Sitzes zu befragen, so, wie sie in den alten Schriftrollen stand. „Legenden basieren oft auf wahren Begebenheiten“, erklärte sie ihm. „Aber die Art, wie sie festgehalten werden, ist oft …“ Sie legte den Kopf schräg, während sie nach dem richtigen Wort suchte.
„Blumig“, brummte Zarka. Durotan lachte, und selbst Geyah musste lächeln.
„Ich hätte eher gesagt, ausgeschmückt oder knapp“, sagte sie. „In diesem Fall ist sie zu knapp. Es heißt: ‚Er zog nach Norden, so weit es nur nach Norden ging, zum Rand der Welt, und dort fand er den Sitz der Geister. Und er trat ein, und er setzte sich und verharrte drei Tage und drei Nächte, bis die Geister zu ihm kamen.‘“
„Ich hatte vergessen, dass es so lange dauerte“, murmelte Durotan. „Ich sagte Orgrim, wir würden früher zurückkehren.“
Drek’Thar brummte. „Ihre Lage ist verzweifelt, wir können also davon ausgehen, dass sie uns nicht allzu lange warten lassen. Sie brauchen ebenso dringend Hilfe wie wir.“
Sie ritten weiter, während die Sonne ihre Bahn über den Himmel zog. So weit im Norden würde die Nacht nur ein paar Stunden dauern. Durotan fragte sich schon, ob ihm seine Augen vielleicht einen Streich spielten, als er eine weiße Linie am Horizont entdeckte, aber dann sagte Kulzak: „Häuptling … ich glaube, das ist Schnee da vorne.“
Durotan leckte sich die trockenen Lippen. Er war bislang extrem sparsam mit seinem Wasser umgegangen, weil er nicht gewusst hatte, ob sie eine frische Quelle – oder überhaupt irgendeine Quelle – finden würden. Nun Schnee und Eis zu sehen, war eine gewaltige Erleichterung.
Drek’Thar versteifte sich auf Weisohrs Rücken. „Dort“, hauchte er, und eine Gänsehaut überkam Durotan, als der blinde Schamane den Arm hob und direkt auf die weiße Linie deutete. „Dort werden wir sie finden. Jenseits des Schnees und des Eises liegt der Rand der Welt.“
Niemand rührte sich. Die Frostwölfe verharrten auf ihren getreuen Reittieren, die Gesichter dem höchsten Norden zugewandt, und irgendwie wussten sie, dass sich alles ändern würde, falls sie auch nur einen weiteren Schritt machten.
Durotan atmete tief ein. „Lassen wir die Geister nicht warten“, sagte er und trieb Scharfzahn zum Weitergehen an.
Bald berührten die Pfoten der Wölfe nicht länger brennende Erde, sondern Schnee. Die Mitglieder der Gruppe tranken freigiebig von ihren Wasserschläuchen und füllten sie mit frischem Schnee, als sie Rast machten und sich an ihren Rationen gütlich taten. Delgar hatte etwas Brennholz auf seinen Wolf geschnallt, und sobald ein kleines Feuer brannte, schmolzen sie Schnee darüber und tranken ihn heiß. Die Wärme in seinem Bauch schenkte Durotan neuen Mut, aber weder er noch einer der anderen wollte unnötig Zeit vergeuden, wo sie ihrem Ziel doch so nahe waren. Also aßen sie hastig, schütteten den Rest des erhitzten Wassers in ihre Schläuche und ritten dann weiter.
Der weiße Schnee am Horizont begann in seiner Mitte einen blauen Schimmer anzunehmen, und ein seltsames Geräusch war zu vernehmen, fast wie ein rhythmisches Atmen. Mit einem Schaudern zog Durotan den Umhang enger um seine Schultern, als der Wind auffrischte und eisig in seinen Körper stach. Vorsichtig schnüffelte er in die kalte Luft.
„Salz“, sagte Kulzak.
„Wir sind nahe“, verkündete Drek’Thar. Seine Stimme zitterte vor Aufregung.
Die Wölfe stellten die Ohren auf, und ihre schwarzen, feuchten Nasen sogen prüfend den fremdartigen Geruch ein, aber auf das Drängen ihrer Reiter stapften sie weiter durch die Ödnis. Die Konsistenz des Schnees unter ihren Füßen schien sich zu verändern. Durotan blickte verwirrt nach unten und stellte fest, dass zwischen den weißen Flächen Erde sichtbar war – aber sie war nicht braun, sondern hell. Leichtfüßig stieg er ab, grub eine Handvoll aus dem Boden und ließ sie dann zwischen seinen Fingern hindurchrieseln. Die Erde fühlte sich rau an, wie gemahlene Nüsse.
Er hob den Kopf. Die anderen starrten schweigend zum Horizont, und im ersten Moment erkannte er nicht, was ihren Blick in den Bann gezogen hatte. Da waren nur Schnee, weiße Erde …
… und blaues Wasser! Abgesehen vom Süden hinter ihnen erstreckte es sich in alle Richtungen, so weit, wie das Auge nur blicken konnte. Es bewegte sich und erzeugte dabei dieses leise atmende Geräusch, das sie gehört hatten und das Durotan nun endlich einordnen konnte. Schon oft hatte er das schwächere Gegenstück dieses Lautes vernommen, das Schwappen von Wellen auf einem See. Diese mächtige Wasserfläche musste ein Ozean sein.
Gewaltige, flache Klumpen aus Eis trieben auf seiner Oberfläche, und hinter ihnen ragte ein strahlend weißer Berg aus dem Meer empor. Die Sonne war bereits im Sinken begriffen, aber es würde noch einige Stunden dauern, bis sie ganz untergegangen wäre. Jetzt gerade fiel ihr Licht in einem derartigen Winkel auf den Berg, dass es blendend grell zurückgeworfen wurde. Durotan konnte nicht direkt hinsehen, und selbst ein indirekter Blick aus den Augenwinkeln ließ bunte Punkte vor seinen Augen tanzen.
Dennoch erkannte er sofort, was er da vor sich hatte.
Niemand sagte etwas. Drek’Thar überraschte sie alle, als er von Weisohrs Rücken rutschte und losrannte, bis er nur noch eine Armlänge vom Rand des Wassers entfernt war. Dort blieb er stehen, hob eine Hand und deutete trotz seiner Blindheit direkt zu dem Berg aus Eis hinüber.
„Da!“, rief er. „Dort erwarten sie uns. Sie sind in Gefahr. Wir müssen uns beeilen.“
Durotan sprach mit sanfter Stimme. „Drek’Thar, zwischen uns und den Geistern liegt ein riesiges Gewässer. Es ist zu kalt, um hinüberzuschwimmen, und wir haben keine Boote. Wie sollen wir zu den Geistern gelangen?“
Das Gesicht des alten Schamanen wurde grau, während er ihm lauschte. Sein Körper sank in sich zusammen, und er ließ sich auf die Knie fallen, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Bitte“, flehte er. „Bitte, Geist des Wassers, hilf uns, damit wir dir helfen können.“
Die einzige Antwort bestand aus dem unerbittlichen, rhythmischen Rauschen, mit dem die Wellen über den Strand rollten.
Das kann nicht sein, dachte Durotan. Wir sind so weit gekommen, haben so viel durchlitten. Voller Zorn ballte er die Fäuste und wandte sich zu Geyah um, die ihn aber nur hilflos ansah. Zarka, Delgar und Kulzak blieben stumm.
Durotan warf den Kopf in den Nacken und brüllte, ein Laut, geboren aus purer Wut und Hilflosigkeit. Der Schrei hallte laut durch die klare Luft, und als seine Lungen schließlich leer waren, atmete er tief ein und donnerte: „Geister! Hört mich an! Feuer, du hast unser Dorf zerstört! Erde und Wasser, ihr habt unsere Leute verschlungen! Wir sind über tote, brennende Erde marschiert und haben Luft geatmet, die uns in der Brust brennt. Wir sehen, wie das Leben rings um uns dahinschwindet, ebenso wie unsere eigene Zahl dahinschwindet. Und dennoch – trotz allem, was ihr uns angetan habt –, habt ihr uns um Hilfe gebeten, und wir sind gekommen. Wo seid ihr? Wo seid ihr?“
Die letzten Worte warfen kurz ein Echo, dann erstarben sie, sodass wieder nur das Geräusch von Wind und Wellen zu hören war. Durotan sank gegen Scharfzahns Seite und vergrub das Gesicht im tröstlich warmen Fell des Tieres. Geyah ging zu ihm hinüber und berührte ihn sanft an der Schulter.
„Mein Sohn“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Schau.“
Durotan hob den Kopf und blickte sich mit trüben Augen um. „Ich sehe dasselbe wie zuvor“, murmelte er tonlos. „Das blaue Wasser, das zu tief und zu kalt ist. Der Berg, den wir nicht erreichen können. Die Eisbrocken, die …“ Seine Augen weiteten sich. Er trat von Scharfzahn fort und starrte auf das Meer hinaus.
Die gewaltigen, flachen Eisschollen waren in Bewegung, und sie wippten nicht nur im Wasser auf und ab; sie trieben zielstrebig auf die Küste zu, als wären es Flöße, die von unsichtbarer Hand gesteuert wurden. Die Haare an Durotans Armen und Nacken stellten sich auf, als er erkannte, dass genau das der Fall war.