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„Nein“, hauchte Durotan. „Nein. Orgrim! Orgrim! Lass ihn am Leben! Hörst du? Wir brauchen ihn lebend!

29

Der Anführer des Rotläuferklans stemmte sich gegen Orgrim und Kulzak, aber die beiden nagelten ihn auf dem Boden fest. »Gewähr mir die Ehre, diesen hässlichen Schädel von seinen Schultern zu hacken, mein Häuptling«, ächzte Orgrim.

„Nein“, entgegnete Durotan. „Noch nicht. Bringt ihn fort und fesselt ihn fürs Erste. Wir müssen uns um die Verwundeten kümmern. Danach werde ich mit ihm reden.“ Er konnte spüren, wie das Geschenk des Geistes dahinschwand, und mit einem Mal war er unvorstellbar müde. Doch obwohl Spalter schrecklich schwer in seinen Händen hing, verspürte er einen brennenden Wunsch, den jeder der Frostwölfe ringsum mit ihm teilte: dieser Kreatur, die da hilflos, aber weiterhin kampflustig vor ihnen lag, den Garaus zu machen.

Er würde ihr den Garaus machen. Doch zunächst brauchte er Antworten. Orgrim und Kulzak kamen seinem Befehl widerwillig nach und fesselten den letzten überlebenden Rotläufer wie das Tier, das er war. Als sie ihn fortzerrten, erwiderte das blutbedeckte Monster herausfordernd Durotans Blick.

„Mein Herz“, erklang Drakas Stimme. Er drehte sich um, schloss sie fest in die Arme und ließ sie erst wieder los, nachdem er sie einen langen Moment an sich gepresst hatte. „Erzähl mir, was passiert ist.“

„Zu viel, um es jetzt zu erzählen“, erwiderte Durotan. „Außerdem gibt es vieles, das ich selbst noch hören muss. Warum machst du also nicht den Anfang und sagst mir, was hier geschehen ist?“ Sie berichtete davon, wie die übelriechende Welle der Angreifer auf das Lager eingestürmt war, und sie erwähnte auch, dass die Rotläufer die Frostwölfe nur verletzt, aber nicht getötet hatten.

„Sie wollten uns gefangen nehmen, um uns später zu fressen“, zischte sie. „Sie dachten nicht, dass jeder von uns weiterkämpfen würde, solange er noch Leben in sich hat!“ Letztlich hatte ihre eigene Taktik somit das Schicksal der Rotläufer besiegelt.

Die meisten der Verletzten konnten noch gehen, und schon bald gingen die Schamanen daran, Wunden zu nähen, Aufgüsse zuzubereiten und Verbände und Umschläge auf Wunden zu pressen. Durotan rief Zarka zu sich und befahl ihr, zum Sitz der Götter zurückzukehren, um Drek’Thar zu holen – und die anderen Wölfe, sofern sie noch lebten.

Er hatte sich vergewissert, dass sein Klan versorgt war.

Jetzt war es Zeit, sich mit dem Häuptling der Rotläufer zu unterhalten.

Orgrim stand neben dem Gefangenen Wache, aber nicht etwa, um ihn an der Flucht zu hindern; es war offensichtlich, dass sich der Rotläufer nicht von seinen Fesseln befreien konnte. Nein, Durotan vermutete, dass es seinem Freund eher darum ging, das Monster am Leben zu halten. Schließlich gab es im ganzen Lager keinen Frostwolf, der ihn nicht tot sehen wollte.

Der Gefangene hob den Kopf, als Durotans Schatten über ihn fiel, und er lächelte. Der Sohn von Garad musterte ihn und suchte nach dem Orc in der Bestie.

Er konnte ihn nicht finden.

„Du hast den Sitz der Geister entehrt“, sagte er.

„Ihr Frostwölfe seid nicht die Einzigen, die die alten Geschichten kennen“, erwiderte der Rotläufer.

„Ihr wusstet also, dass wir kommen würden.“

„Ja. Früher oder später musstet ihr hier auftauchen. Nachdem ihr unsere Jagdgruppe abgeschlachtet hattet, zogen wir nach Norden, um euch einen gebührenden Empfang zu bereiten. Diesmal solltet ihr zu uns kommen. Unsere Späher haben eure Reise beobachtet. Wir mussten einfach nur warten.“ Erneut lächelte er – ein abstoßender Anblick. „Wir haben euren Geistern die Kräfte geraubt, und ihr seid uns direkt in die Arme gelaufen.“

Ich darf ihn nicht töten. Noch nicht.

„Ich möchte verstehen, was mit euch geschehen ist“, sagte Durotan schließlich. „Die Rotläufer waren einst ein Orc-Klan wie jeder andere auch. Ihr standet vor denselben Herausforderungen wie wir. Gul’dan sagte, ihr hättet ihm die Gefolgschaft verwehrt, ebenso wie wir. Was ist passiert? Wie konntet ihr in diesen … diesen kollektiven Wahnsinn verfallen und solche Gräuel begehen?“ Er empfand fast so etwas wie Mitleid, als er den Kopf schüttelte. „Euer Klan ist verrückt geworden.“

Der Häuptling starrte ihn einen Moment lang an, dann begann er zu lachen. Es war ein widerlicher Laut, der tief aus seiner Kehle stammte und zu einem lauten Prusten anschwoll, bevor der Gefangene wieder verstummte. Tränen der Belustigung befeuchteten seine Augen.

„Verrückt“, wiederholte er, seine Stimme tief und vollklingend und autoritär. „Wahnsinnig. Geisteskrank. Ich versichere dir, Frostwolf, ich bin nichts dergleichen, und ebenso wenig waren es jene, die mir folgten.“

„Ihr habt Draenei gejagt und andere Orcs. Ihr habt uns wie Beute behandelt. Ihr habt uns abgeschlachtet und ausgeweidet und uns am Spieß über euren Feuern gebraten! Kein Orc, der bei klarem Verstand wäre, könnte je so etwas tun!“

„Aber unser Verstand ist klar“, entgegnete der Rotläufer. Er war völlig gelassen, und Durotan musste an sich halten, um nicht selbst die Kontrolle zu verlieren, aber er beherrschte sich. „Wir sind vernünftiger und logischer, als ihr Frostwölfe es seid.“

Diesmal konnte Durotan sich nicht zurückhalten. Er fuhr dem Rotläufer mit dem Handrücken über das Gesicht und versuchte nicht einmal, die Wucht des Schlages zu dämpfen. Der Kopf des Gefangenen flog zur Seite, aber seine einzige Reaktion bestand aus einem weiteren, leisen Lachen. Blut tropfte auf sein Kinn und vermischte sich mit dem der Orcs, die er ermordet und verzehrt hatte.

„Wir sind uns ähnlicher, als du denkst, Durotan, Sohn von Garad“, sagte er, und Durotan erstarrte, als er seinen eigenen Namen und den seines Vaters aus dem Mund des Monsters hörte. „Wir sind beide intelligent genug, um zu wissen, dass es töricht und gefährlich wäre, unsere Klans mit Gul’dans Horde zu vereinen. Darum haben wir eine andere Entscheidung getroffen. Wir beschlossen, ohne Hilfe zu überleben, ganz auf uns allein gestellt. Die Rotläufer wollten nicht wie Talbuks leben, sondern wie Orcs. Das ist genau dieselbe Entscheidung, die ihr getroffen habt – Orcs zu bleiben. Ihr stammt nicht aus dem verweichlichten Süden. Ihr wolltet nicht zu Gul’dans Sklaven werden. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass ihr bislang noch dadurch überlebt, dass ihr von einem Ort zum nächsten zieht, jeder karger und fruchtloser als der vorige, und euch von dem wenigen ernährt, was ihr dort findet.“

„Ich werde dir dein anmaßendes Maul …“ begann Orgrim und hob den Schicksalshammer, aber Durotans Hand schnellte vor und hielt ihn zurück. Seine Augen bohrten sich in die des anderen Häuptlings. Sie waren hellbraun … und klar.

„Fahr fort“, sagte Durotan mit tonloser Stimme.

Der andere Orc lächelte. „Wie ist es euch mit dieser Entscheidung ergangen, Durotan?“ Er beschrieb eine Geste mit seiner zerschmetterten Hand. Die Bewegung musste ihm große Schmerzen bereiten, aber er ließ sich nichts anmerken. „Blüht euer Klan? Wachst und gedeiht ihr? Genießt ihr euer Dasein? Oder klammert ihr euch einfach nur am Leben fest und stolpert blind vor euch hin?“ Er schüttelte den Kopf. „Wusstest du, dass wir euch im Stillen alle bewundert haben?“

Das überraschte Durotan. Andererseits … hatte Gul’dan nicht etwas ganz Ähnliches gesagt?

„Ich hatte mehr von den Frostwölfen erwartet. Ihr seid eine gewaltige Enttäuschung.“

Die Worte klangen wie die eines Verrückten – aber ihnen wohnte eine grausame Logik inne. Durotan war gleichermaßen fasziniert und angewidert von den Worten des anderen Orcs … Doch es gab noch mehr, was er erfahren musste.

„Ich weiß, warum wir uns für dieses Dasein entschieden haben“, brummte er. „Aber warum habt ihr euch dazu entschieden …“ Er konnte den Satz nicht einmal beenden.

Die schrecklich rationalen Augen des Rotläufers suchten seinen Blick, und dann begann der Häuptling zu erzählen. Seine Stimme klang ruhig, beinahe schon gelangweilt, so, als würde er eine wohlbekannte Geschichte rezitieren. „Ebenso wie ihr weigerten wir uns, dem Ruf der Horde zu folgen. Ebenso wie ihr haben wir versucht, Nahrung zu finden und zu überleben. Schließlich begannen wir, uns mit dem Blut von Tieren zu bemalen, um die anderen Orcs zu erschrecken, die uns bestehlen wollten.“