Das Innere des Apfels war tot. Nicht verrottet; nicht von Würmern oder Schädlingen zerfressen. Einfach nur tot – verdorrt und braun.
Er hatte keine Kerne.
3
Einen Moment lang herrschte erschrockene Stille, aber Garad brach das Schweigen. »Spielen wir ein Spiel«, sagte er. »Tun wir so, als hättest du recht, als würde Draenor – unsere gesamte Welt – sterben. Und aus irgendeinem Grund wurde dir, und dir allein, die Gabe geschenkt, uns in ein besonderes, neues Land zu führen, das nicht auf diese Weise stirbt. Wenn deine Geschichte wahr wäre, wärst du dann nicht besser beraten, mit weniger Leuten in dieses neue Land zu reisen, anstatt mit einer großen Menge? Warum wanderst du nach Norden, wo der Winter kaum vorbei ist, und machst den Frostwölfen ein so großzügiges Angebot?« Garads Stimme troff vor Zynismus.
Gul’dan schob seinen Ärmel zurück und offenbarte eigenartige Armbänder und noch mehr von seiner befremdlich grünen Haut. „Ich trage das Mal der Magie“, erklärte er nur. „Ich spreche die Wahrheit.“
Irgendwie wusste Durotan, dass er wirklich nicht log. Sein Blick wanderte zu Garona, der Sklavin des Hexenmeisters. Hatte auch sie magische Kräfte? Hielt Gul’dan sie vielleicht gar nicht in Ketten, weil sie ihm untertan war, sondern weil sie gefährlich sein könnte?
„Ich erwähnte vorhin einen Klan“, fuhr Gul’dan fort. „Es ist kein Klan, in den ich hineingeboren wurde, sondern ein Klan, den ich gegründet habe. Meine Horde. Ich habe sie erschaffen, und jeder, der sich ihr angeschlossen hat, tat dies freiwillig und dankbar.“
„Das glaube ich nicht. Kein Orc-Häuptling – ganz egal, wie verzweifelt er wäre – würde seinem Klan befehlen, dir zu folgen und seiner wahren Treupflicht abzuschwören!“
„Das verlange ich auch gar nicht von ihnen“, erwiderte Gul’dan, sein ruhiger Tonfall ein starker Kontrast zu Garads lauter werdender Stimme. „Sie behalten ihre Häuptlinge, ihre Bräuche, sogar ihre Namen. Aber während die Klans weiter ihren Häuptlingen unterstehen, unterstehen die Häuptlinge mir. Wir sind Teil eines großen Ganzen.“
„Und alle, mit denen du gesprochen hast, haben diese Geschichte geschluckt wie Muttermilch.“ Garad zeigte seinen Spott nun offen. Durotan fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er die Regeln des Parley verletzte und Gul’dan die Kehle herausriss, so, wie er es zuvor schon angedroht hatte.
„Nicht alle, aber viele“, sagte der grüne Orc. „Viele andere Klans, die leiden und deren Größe schwindet. Sie werden mir in dieses grüne, neue Land folgen, und sie werden es tun, ohne ihre Klanzugehörigkeit aufzugeben. Sie müssen lediglich eine weitere Zugehörigkeit annehmen. Sie sind noch immer Orcs vom Kriegshymnenklan, vom Klan des Lachenden Schädels, vom Klan des Blutenden Auges. Aber sie sind auch Mitglieder der Horde. Meiner Horde. Sie folgen mir und gehen, wohin ich sie führe. Und ich werde sie in eine Welt führen, die vor Leben überquillt.“
„Mehr als ein Klan folgt dir? Kriegshymnenorcs? Orcs vom Lachenden Schädel und vom Blutenden Auge?“ Garad wirkte ungläubig, und er hatte alles Recht dazu. Orcs mochten bisweilen zusammenarbeiten, wenn sie ein gemeinsames Ziel hatten, etwa bei der Jagd, aber Durotan wusste, dass es damit vorbei war, sobald sie dieses Ziel erreicht hatten. Was Gul’dan ihnen da erzählte, klang selbst im besten Falle unglaubwürdig, wenn es auch nicht fantasievoll genug war, um als Kindergeschichte durchzugehen.
„Alle, mit ein paar Ausnahmen“, erwiderte Gul’dan. „Einige halsstarrige Klans wollen sich lieber an eine Welt klammern, die ihnen nichts mehr bieten kann. Manche scheinen kaum noch Orcs zu sein; sie schmieren sich mit dem Blut ihrer Beute ein und suhlen sich im Verfall. Wir meiden sie, diese Rotläufer, und früher oder später werden sie wahnsinnig und verzweifelt sterben. Alles, was ich von euch verlange, ist eure Loyalität, wenn wir diese sterbende Hülse gemeinsam verlassen. Euer Wissen, eure Fertigkeiten, eure Stärke.“
Durotan versuchte, sich ein gewaltiges Meer aus brauner Haut vorzustellen, jeder Orc mit einer Waffe in der Hand. Doch sie setzten diese Waffen nicht gegeneinander ein, sondern gegen Tiere, um ihr Fleisch zu teilen, gegen das Land, um Unterkünfte und Häuser zu bauen. All das in einer Welt, in der die Bäume grüne Blätter trugen und sich unter dem Gewicht reifer Früchte beugten, in der die Tiere stark und fett und gesund waren und das Wasser frisch und klar floss. Spontan beugte er sich vor und sagte: „Erzähl mehr von diesem Land.“
„Durotan!“
Garads Stimme knisterte wie ein Blitz. Das Blut schoss Durotan heiß ins Gesicht, aber die Aufmerksamkeit seines Vaters galt nach diesem kurzen Wutausbruch schon nicht mehr dem anmaßenden Sohn, sondern wieder dem Fremden in ihrem Dorf. Einem Fremden, der Durotan langsam anlächelte.
„Du bist also gekommen, um uns zu retten, ja?“, fragte Garad. „Wir sind die Frostwölfe, Gul’dan. Wir brauchen weder deine Hilfe noch deine Horde oder dein Land, das nur ein Versprechen ist. Der Frostfeuergrat ist seit den frühesten Geschichten die Heimat der Frostwölfe, und er wird es auch weiterhin bleiben!“
„Wir ehren unsere Traditionen“, sagte Geyah, ihre Stimme ebenso hart wie ihre Miene. „Wir geben unsere Identität nicht auf, nur, weil die Zeiten hart sind.“
„Andere mögen wie wimmernde Kinder an deine Seite rennen, aber nicht wir. Wir sind aus härterem Holz geschnitzt als die verweichlichten Südländer.“
Gul’dan nahm keinen Anstoß an Garads verächtlichen Worten. Vielmehr betrachtete er den Häuptling mit einem Blick, der beinahe traurig wirkte.
„Ich erwähnte Orc-Klans, die sich der Horde nicht anschlossen“, sagte er. „Als ich zu ihnen kam, sagten sie ebenfalls, dass sie keine Hilfe bräuchten. Aber der Mangel an Nahrung, an Wasser, an Schutz – an allem, was zum Überleben nötig ist – hat einen schrecklichen Preis von ihnen gefordert. Sie wurden zu Nomaden, streifen von einem Ort zum nächsten. Ihre Heimat mussten sie aufgeben. Dieses Schicksal, ebenso wie ihr Leid, ist absolut unnötig.“
„Wir ‚leiden‘ nicht“, entgegnete Garad. „Wir überleben.“ Er rutschte ein Stück auf seinem Stuhl nach hinten und richtete seinen großen, mächtigen Oberkörper auf. Durotan wusste, was diese Geste bedeutete.
Das Parley war vorbei.
„Wir werden dir nicht folgen, grüner Orc.“
Gul’dan machte nicht den Eindruck, als wäre er Zurückweisung gewöhnt. Durotan fragte sich, ob der Hexenmeister die mysteriöse Magie beschwören würde, über die er angeblich verfügte. Würde er den Schutz des Parley brechen und Garad zum Mak’gora herausfordern – einem Kampf bis zum Tod, ausgefochten zwischen zwei Orcs? Seine Mutter wusste vielleicht, wie sie einem solchen Zug begegnen könnte; Durotan selbst hingegen nicht.
Er hatte bislang nur einmal einem Mak’gora beigewohnt. Ein Orc vom Klan der Donnerfürsten hatte seine Beute nicht wie vereinbart den Frostwölfen überlassen wollen. Stattdessen hatte er Grukag herausgefordert, der das fragliche Tier für sich beanspruchte. Durotan war das Ganze seltsam und zerstörerisch erschienen; bis zu jenem Moment hatten die Donnerfürsten und die Frostwölfe mehrere Tage gut zusammengearbeitet. Er hatte sogar eine Art Freundschaft geschlossen, mit einem gleichaltrigen Orc namens Kovogor. Kovogor war humorvoll, sympathisch und extrem gut im Umgang mit der Wurfaxt. Als die verbündeten Jagdgruppen abends ihr Lager teilten, hatte er Durotan gezeigt, wie man diese Waffe richtig einsetzte, so, dass sie sich sicher ins Fleisch des Zieles bohrte.