„Aus drei verschiedenen Tälern“, konterte Aloman, eine von Lothars besten Soldatinnen, mit einem harten Blick ihrer blaugrauen Augen.
„Ich habe ein Dutzend einander widersprechender Schilderungen gehört“, erklärte ein dritter Offizier.
„Das ist eine Rebellion, Sire“, meldete sich ein vierter zu Wort.
„Aufständische, Bestien …“, sagte der erste Offizier gereizt. „Wir brauchen mehr Informationen.“
Als Llane Lothar entdeckte, glättete sich seine gerunzelte Stirn ein wenig. „Lothar!“, rief er. „Habt Ihr irgendetwas erfahren, das uns weiterhelfen könnte?“
„Vielleicht ein klein wenig“, entgegnete Lothar. Königin Taria, die neben ihrem Gemahl stand, blickte auf, als sie ihres Bruders Stimme hörte. Ihrer beiden Blicke trafen sich, und sie schenkte ihm ein angespanntes Lächeln. Taria wirkte ebenso majestätisch wie Llane, doch Lothar wusste nur zu gut, dass sich hinter ihren Rehaugen und ihrem bescheidenen Auftreten ein scharfer Verstand und eine Halsstarrigkeit verbargen, die seiner eigenen fast gleichkam.
Lothar sprach rasch, vermied Mutmaßungen und hielt sich an die Fakten, als er von dem jungen Magier und dem merkwürdigen grünen Hauch berichtete, der den Lippen des Toten entwichen war. Er endete mit: „Zudem, mein Lehnsherr, hat man mir gesagt, ich solle den Wächter rufen. Also kümmert Euch darum, Mann.“
„Wird sofort erledigt“, sagte Llane ironisch und seufzte dann.
„Gibt es immer noch keine Nachricht aus Dunkelhain?“, fragte Taria sanft. Sie und Lothar waren beide in Dunkelhain aufgewachsen, einem Ort, der ebenso idyllisch und ruhig war wie Goldhain. Das Dorf lag im Süden des Waldes von Elwynn, und seit einer Weile hörte man unerklärlicherweise nichts mehr von dort. Doch auch jetzt konnte Lothar seiner Schwester leider nichts berichten, das ihre Unruhe gelindert hätte. Er schüttelte den Kopf.
Llane sah ihn vollkommen ratlos an. „Wie kann eine Garnison von dreißig Mann einfach spurlos verschwinden?“
„Durch Fel-Magie“, ertönte da eine junge, kräftige Stimme, „oder zumindest durch ihren Einfluss.“
Schlagartig verstummte alles Gerede. Mit Ausnahme von Lothar schauten Llane und alle anderen im Raum zur Tür hinüber und zu dem Neuankömmling, der dort stand. Der König hob eine Augenbraue. „Ist er das?“, fragte er Lothar unsicher.
„Hm-hmm“, entgegnete Lothar abgelenkt. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr dem jungen Soldaten hinter dem Magier, der ausgewählt worden war, um ihn zu eskortieren, und jetzt in Habtachtstellung dastand.
Verflucht!
Lothar presste die Lippen aufeinander und beantwortete Llanes Frage mit einem Nicken. „Feldwebel Callan!“, sagte Taria, die Stimme warm vor Freude.
Callan verbeugte sich knapp. „Eure Majestät.“ Seine sonore Stimme klang eine Winzigkeit zu förmlich. War ich jemals so jung wie er?, fragte sich Lothar.
„Danke, Feldwebel“, sagte er kurz angebunden, ehe er die Hand ausstreckte, um den jungen Magier zu packen und ihn zu Llane zu führen. Callan salutierte und bezog neben der Tür Stellung, um auf weitere Befehle zu warten.
„Also“, sagte Llane mit harter Stimme. „Wer bist du, Zauberer?“
„Mein Name ist Khadgar“, entgegnete der Junge. „Ich bin der Wächter-Novize.“
War es im Raum leise, als Khadgar das Wort ergriff, so war es jetzt so still, dass einem das Knistern des Feuers überlaut vorkam. Der Junge schaute sich unbehaglich um, verlegen von der geballten Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, und fuhr fort.
„Ich … na ja, ich war der Wächter-Novize. Ich habe mich von meinen Eiden losgesagt.“ Das Schweigen wurde noch tiefer. „Offiziell gibt es da kein … na ja, kein verbindliches Protokoll, wie so was funktioniert, wisst Ihr? Für mich war das eher eine … eine persönliche Entscheidung, die letztlich dazu führte, dass ich Dalaran und den Kirin Tor den Rücken gekehrt habe, und abgesehen davon … tauge ich einfach nicht als Wächter“, endete er ein wenig lahm.
„Du meinst, du bist ein Flüchtling“, deutete Lothar seine Worte.
Der Junge – Khadgar – wandte sich ihm zu, um sich gegen diese Anschuldigung zu wehren. „Ich verstecke mich nicht.“ Dann wandte Khadgar seine Aufmerksamkeit dem König zu. „Eure Majestät“, sagte er und trat vor. „Ich mag vielleicht meine Ausbildung abgebrochen haben, doch damit habe ich nicht auch meine Fähigkeiten hinter mir gelassen. Genauso wenig wie Ihr vergessen könntet, wie man ein Schwert führt, falls Ihr beschließen solltet, kein Soldat mehr zu sein. Ihr müsst wissen …“ Er fuhr sich mit einer Hand durch sein braunes Haar. „Ich habe etwas gespürt. Dunkle Mächte. So stark, dass ich sie fast riechen kann.“
Ein Schauder kroch Lothar über die Haut, und er wusste, dass der Junge die Wahrheit sprach.
„Zu wissen, dass etwas so Böses so nah ist … Das konnte ich einfach nicht auf sich beruhen lassen. Ich glaube …“
Er brach ab, als draußen mit einem Mal ein Kreischen erscholl, gefolgt vom Gebrabbel verängstigter Stimmen. Callan eilte zur Tür und riss sie auf, um die Leute zur Ordnung zu rufen.
„Was geht da draußen vor?“, wollte Lothar von ihm wissen.
Der Feldwebel wandte seinem befehlshabenden Offizier sein unvorstellbar junges Antlitz zu. „Rauch, Herr! Im Südosten!“
„Eure Majestät“, sagte Khadgar, und sein ganzer Körper verkrampfte sich. „Ich bitte Euch dringend, so schnell wie möglich den Wächter zu rufen!“
„Sie haben den Wald von Elwynn erreicht!“, verkündete einer der Posten. „Dunkelhain brennt!“ Lothar und Llane sahen einander an, ehe Lothar mit großen Schritten zum Fenster marschierte. Der Wachmann hatte recht. Im Zwielicht so kurz vor der Dämmerung war das Feuer leicht zu entdecken, ein träges, wenngleich finsteres orangerotes Leuchten, das unmittelbar über der Baumlinie waberte. Der Wind drehte, und jetzt konnte er das Feuer auch riechen.
Dann war Taria neben ihm, eine Hand auf seinem Arm. „Ein Angriff?“ Sie war von edler Geburt und durch Heirat zur Königin geworden. Sie hielt ihre Stimme ruhig. Allein er, der sie so gut kannte wie kein anderer, konnte das fast unmerkliche Zittern darin hören; konnte die Furcht in ihrem Griff an seinem Arm spüren.
Er antwortete ihr nicht. Das brauchte er nicht. Sie wusste auch so Bescheid. Ihre Miene wandelte sich, als sie seine musterte. „Was ist?“, fragte sie.
Lothar sprach so leise, dass seine Worte allein an ihr Ohr drangen. „Hör auf, Callan anzufordern.“
Sie schaute ihn an, und in diesem Moment war sie außerstande, Verwirrung vorzutäuschen. Er senkte seine Stimme zu einem schroffen Flüstern. „Halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus.“
Taria stritt seinen Vorwurf nicht ab, sondern sagte bloß, als würde das alles erklären: „Er will in die Fußstapfen seines Vaters treten.“
Es gab mindestens zehntausend Dinge, die dagegen sprachen, und am liebsten hätte Lothar unverzüglich mindestens dreitausend davon zur Sprache gebracht, doch dafür war jetzt keine Zeit. Stattdessen sagte er: „Hör auf, ihm zu helfen.“
„Hüte deine Zunge“, sagte Taria. „Du sprichst mit der Königin.“
Das entlockte Lothar ein durchtriebenes Lächeln, und er beugte sich zu ihr. „Zuerst und vor allem bist du meine Schwester“, erinnerte er sie. Das konnte sie nicht leugnen. Llane tauchte hinter ihnen auf und musterte Lothar mit seinen ernsten braunen Augen.
„Wann warst du das letzte Mal in Karazhan?“, fragte der König.
„Zusammen mit Euch. Ich weiß nicht recht … vor sechs Jahren?“ Sechs Jahre. Eine lange Zeit. Wie konnten sie einfach so verstreichen? Einst hatten sie drei sich so nahe gestanden …
Llane schaute überrascht drein. „Und seitdem hattest du keinen Kontakt zu Medivh?“
„Nicht, dass ich es nicht versucht hätte“, murmelte Lothar. „Ich weiß, dass er meine Briefe bekommen hat, doch die Mühe, einen Boten anzuheuern, um sie ihm zu schicken, hätte ich mir sparen können; ebenso gut hätte ich sie auch gleich anzünden können, nachdem ich sie geschrieben hatte. Ich nehme an, Ihr habt seitdem auch nichts von ihm gehört?“