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Llane schüttelte den Kopf. „Nun“, sagte er dann grimmig und schaute auf seine Hand herab, „jetzt kann er sich nicht länger vor uns verstecken.“ Er zog sich einen Ring mit einem großen, funkelnden blauen Edelstein vom Finger und drückte ihn Lothar in die ausgestreckte Hand.

Ihre Blicke trafen sich.

„Der Wächter“, erklärte Llane, „wurde gerufen.“

5

Durotan, Orgrim und zwei Dutzend weitere Frostwölfe standen auf einer Anhöhe und beobachteten das Schauspiel, das sich unter ihnen zutrug. Durotan strich Scharfzahn gemächlich über das dichte Fell und konnte kaum glauben, was sich seinen Blicken darbot. Orcs – diese mächtigen, gewaltigen, stolzen Krieger – steckten Hütten mit strohgedeckten Dächern in Brand, schlachteten Vieh ab und jagten kleineren, unbewaffneten, sanft wirkenden Kreaturen nach, die schreiend vor ihnen flohen. Gul’dan hatte den Orcs Nahrung und sauberes Wasser versprochen. Und er hatte sein Wort gehalten. Die Felder zu ihren Füßen waren golden von Getreide und reich an hellorangenen Kürbisfrüchten.

Die Mägen seiner Männer waren voll, doch ihre Stimmung war dennoch nicht die beste. Durotans Lippen verzogen sich vor Abscheu, während unten das Gemetzel, das den Begriff „Schlacht“ nicht verdiente, weiterging.

In dem Durcheinander löste sich ein Wolf samt Reiter von den anderen und preschte den Hügel hinauf auf sie zu. Schwarzfaust, der Kriegshäuptling, trug eine grimmige Miene zur Schau. Über den mächtigen Schultern seines Wolfs lag eine Gefangene. Einer dieser „Menschen“, wie Gul’dan sie nannte.

Die Frau war jung und verängstigt. Ihr Haar hatte die Farbe des Strohs, das unter ihnen knisterte und brannte, und ihre Haut war von einem seltsamen Rosaorange. Ihre Augen waren genauso blau wie die von Durotans Sohn. Obwohl sie vor Entsetzen weinte, war der Säugling, den sie fest umklammert hielt, zu ängstlich, um zu schreien. Die Frau schaute zu Durotan auf und flehte ihn stumm an, doch er wusste auch ohne Worte, was sie sagte. Sie sagte das, was alle Eltern an ihrer Stelle sagen würden. Verschont mein Kind!

Detish …

„Schließen sich die Frostwölfe der Jagd nicht an?“, fragte Schwarzfaust.

Während er darauf antwortete, musterte Durotan die heulende Menschenfrau. „Wir ziehen es vor, wenn unsere Feinde mit Äxten bewaffnet sind statt mit Kindern.“

Etwas huschte über Schwarzfausts Antlitz, als er auf seine Gefangene hinabblickte; zwar war der Ausdruck auf seinen Zügen sogleich wieder verschwunden, doch Durotan hatte ihn gesehen. „Wir haben unsere Befehle, Durotan.“ In seiner Stimme lag ein unmerklicher Anflug von Scham. „Achte die alten Wege.“ Er schwang sich wieder auf sein Reittier und ergriff die Zügel des Wolfs. So leise, dass Durotan es fast nicht gehört hätte, murmelte der Kriegshäuptling: „Irgendwo in diesem Misthaufen findet sich schon noch ein würdiger Gegner.“

Durotan erwiderte nichts darauf. Schwarzfaust knurrte, ehe er an den Zügeln riss und seinen Wolf wendete. „Sucht sie!“, rief er dem Rest des Kriegstrupps zu. „Versucht, nicht zu viele von ihnen zu töten. Wir brauchen sie lebend!“

Leise und beinah entschuldigend sagte Orgrim: „Das hier ist Krieg, mein Häuptling.“

Durotan verfolgte weiterhin das Grauen, das sich unter ihnen entfaltete. Er dachte an die Käfige und an die Draenei und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Das ist es nicht.“

Es war kleinlich von ihm, das wusste Lothar, doch zum Kuckuck, im Augenblick empfand er Ärger, ein Gefühl der Hilflosigkeit und, ja, auch Engherzigkeit. Also hatte er dem jungen Magier nicht gesagt, wohin ihre Reise ging. Zwar hatte Khadgar sich danach erkundigt, doch auch Llane, den offensichtlich ähnliche Gefühle umtrieben, hatte nur gesagt: „Wo immer Lothar dich hinschickt.“

Jetzt klammerte er sich hinter Lothar fest, während sie auf der Greifin dahinflogen, er und dieser Fast-Wächter, ein Junge, der noch nicht einmal so alt war wie Callan. Lothar merkte, wie er von einer Seite zur anderen rutschte und mit der Neugierde in die Tiefe spähte, wie sie für Magier typisch war, während er in einem fort Fragen stellte, die jedoch zum Glück vom Wind verweht wurden. Lothar war nicht in der Stimmung, den Fremdenführer zu spielen.

Die Greifin war beinah senkrecht in den Himmel hinaufgeschossen, als könnte sie Lothars schlechte Stimmung spüren und würde Khadgar am liebsten abwerfen. Erst als sie sich hoch über die grünen Baumwipfel erhoben hatten, die just in diesem Moment von der Dämmerung berührt wurden, blieb die Greifin schließlich auf gleicher Höhe. Hier oben war es kalt, und Lothar quoll der Atem in weißen Wölkchen von den Lippen. Am liebsten hätte er die Greifin angewiesen, etwas Luftaufklärung zu betreiben und geradewegs auf das Feuer zuzuhalten. Doch er hatte seine Befehle, und so war er gezwungen, zuzusehen, wie der unheilvolle Schein der Flammen schwand, während sie weiter nach Osten flogen.

Die aufgehende Sonne breitete einen wohlwollenderen Glanz über die nur langsam erwachenden Wälder, bis schließlich helllichtes Tageslicht herrschte. Weit vor ihnen ragte ein Berg empor, ein einzelner Riese inmitten der kleineren Hügel und ein grauer Klecks vor dem Hintergrund des strahlend hellen Osthimmels. Auf seinem Gipfel erhob sich etwas in noch größere Höhe. In diesem Moment fing sich die Sonne darin, und das Licht blitzte aus den Fenstern des Baus. Nein, kein Sonnenlicht; da war richtiges Licht, blau-weiß und wunderschön, das aus dem Innern der obersten Kammer drang.

„Karazhan!“ Ausnahmsweise riss der Wind Khadgar seinen Ausruf nicht von den Lippen, und in diesem einen Wort schwangen all sein Enthusiasmus, sein Erstaunen und seine Beklommenheit mit. Und ungeachtet seiner gegenwärtigen Griesgrämigkeit konnte Lothar nicht umhin, ihm diesen Moment zu gönnen. Immerhin wäre dies Khadgars Zuhause geworden, wenn er seine Verantwortung nicht aufgegeben hätte.

Lothar kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. Das Tageslicht meinte es nicht gut mit dieser Stätte. Der graue Stein des berühmten Turms von Karazhan wies Risse auf, die selbst aus der Entfernung sichtbar waren, und je näher sie kamen, desto mehr wurde Lothar klar, dass sich das Gemäuer in einem Zustand fortschreitenden Verfalls befand. Efeu wucherte auf den Mauern. Die Gemüsegärten und das Weideland, das nötig war, um den Wächter und jene zu ernähren, die ihm an diesem abgelegenen Ort zu Diensten waren, wirkten ungepflegt und waren von Unkraut überwuchert. Einigen Ställen fehlten sogar Teile des Dachs. Er kniff die Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Wenn der Turm selbst derart heruntergekommen war, was war dann wohl mit seinem Meister? Sechs Jahre lang hatte er sich in Schweigen gehüllt. Das war eine lange Zeit.

Als die Greifin bedächtig beidrehte und sich zur Landung bereitmachte, entdeckte Lothar eine einzelne Gestalt mit stockgeradem Rücken, die sie am Fuß des Turms erwartete. Das Gesicht des Mannes war ein blasser Schmierfleck über dem flatternden Wappenrock mit dem Auge der Kirin Tor. Ungeachtet seiner Beklommenheit spürte Lothar, wie seine Anspannung zumindest ein wenig nachließ.

Die Greifin landete sanft, und ein Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Soldaten breit, als er von ihrem Rücken glitt und auf den wartenden Mann zuging. Dieser war groß gewachsen und schlank, dabei aber durchaus muskulös, hatte weißes Haar, bleiche Haut und ein von Falten durchzogenes Gesicht mit jung gebliebenen Augen. Die funkelten nun vor Vergnügen, als der Kastellan die Arme ausstreckte, um seinen alten Freund willkommen zu heißen.

Lothar klopfte dem zeitlosen Mann auf den Rücken. „Moroes, du antikes Ungetüm! Schau dich an! Vollkommen unverändert!“ Das war nicht bloß ein freundliches Kompliment. Als er selbst noch jung gewesen war, war Moroes ihm alt vorgekommen. Jetzt dagegen wirkte der Magier wesentlich jünger als einst. Ja, überlegte Lothar, er selbst war eben gealtert und Moroes nicht.