Выбрать главу

„Ich wünschte, dasselbe könnte ich auch über dich sagen, Anduin Lothar“, entgegnete Moroes. „Aber du bist ein alter Mann geworden! Ist das da etwa Grau in deinem Haar?“

„Schon möglich“, gab Lothar zu. Mit Sicherheit würde er einige graue Haare bekommen, falls sich seine Befürchtungen bestätigten. Dieser Gedanke betrübte ihn. Er drehte sich zu Khadgar um. Die Augen des Jungen waren groß wie zwei in sein junges Gesicht gepflanzte Hühnereier.

„Folgt mir, meine Herren“, sagte Moroes. Seine jugendlich-alten Augen verweilten auf Khadgar, doch er stellte keine Fragen.

„Komm“, sagte Lothar zu Khadgar, um beinahe widerwillig hinzuzufügen: „Ich denke, es wird dir gefallen.“ An Moroes gewandt fragte er beim Eintreten: „Wo stecken denn alle?“

Kummer huschte über die alterslosen Züge des anderen, als er ausweichend erwiderte: „Vieles hat sich geändert.“

Gleichwohl, etwas war unverändert geblieben: die Kammer, in die sie nun gelangten, die Bibliothek. Ebenso hoch wie die Wände schienen auch die Regalreihen voller Bücher aufzuragen, die die Wendeltreppe im Herzen des großen Raums umringten. Die Regale füllten jeden Zentimeter der gerundeten Steinmauer aus: Brett an Brett, Buch an Buch, etliche Kisten voll mit Schriftrollen, noch bis auf die allerletzte, wie Lothar wusste, selten und kostbar und aller Wahrscheinlichkeit nach einmalig. Es gab so viele Regale, dass Leitern aufgestellt worden waren, die zu einer Art Lesegalerie hoch über ihnen führten – die wiederum ebenfalls schier von Büchern überquoll. Und als ob die Bücher auf den Regalen und der Terrasse noch nicht genug gewesen wären, lagen überall auf dem Boden weitere mannshohe Stapel. Das Wissen, das in all diesen Bänden steckte, hätte kein einzelner Mensch in seinem ganzen Leben in sich aufnehmen können.

Jedenfalls kein gewöhnlicher Mensch.

Doch noch bemerkenswerter als die fast schon obszöne Fülle an unbezahlbarem Wissen, die diese Kammer beherbergte, waren die Geheimnisse der Magie, die sich jenen erschlossen, die diese Bücher lasen.

Die Schlieren dieser Magie wanden sich gleißend hell aufwärts und durch die Regale, glühend weiße Rinnsale, die an der Decke hoch über ihren Köpfen zu erblühen schienen. Khadgar erinnerte an einen Jungen in einem Pastetenladen, bereit, alles zu verschlingen, das sich seinen Blicken darbot, und Lothar konnte es ihm kaum verübeln.

„Führen die zum Becken des Wächters?“, fragte Khadgar. Sein Blick war starr auf die federartigen Lichttentakel gerichtet, und seine Stimme konnte ihr unmerkliches Zittern nicht verleugnen.

Moroes’ Augen weiteten sich um eine Winzigkeit, und er warf Lothar einen fragenden Blick zu, wie um zu sagen: Was für einen interessanten Leckerbissen hast du mir denn da mitgebracht? „In der Tat“, erklärte er. „Karazhan wurde als Stätte der Konfluenz errichtet …“

„… als Ort, an dem sich die Ley-Linien treffen, ich weiß“, keuchte Khadgar. Er schüttelte den Kopf, offensichtlich beinahe überwältigt von der Situation. „Die Macht, die hier schlummern muss … Dieses Wissen!“ Er lachte, und es klang überraschend unschuldig. „Ich wusste nicht einmal, dass es überhaupt so viele Bücher gibt!“

Moroes schaute sogar noch faszinierter drein. Allerdings war Lothar nicht gewillt, irgendwelche Fragen des Kastellans zu beantworten, bis er selbst einige gestellt hatte. „Wo ist er?“, fragte er rundheraus.

Moroes bedachte seinen alten Freund mit einem wissenden Lächeln. Er streckte den Zeigefinger aus und deutete geradewegs in die Höhe.

Natürlich. „Warte hier“, wies Lothar Khadgar an, während er die Wendeltreppe musterte, die nach oben führte … und immer noch weiter nach oben … und sich für den Aufstieg wappnete. Er war sich sicher, dass der Junge diesen speziellen Befehl beherzigen würde. Gewöhnliche Burschen in Khadgars Alter wären wesentlich aufgeregter gewesen, wenn sie eine Waffenkammer betreten hätten. Natürlich wusste Lothar um den Wert von Büchern, doch dieser Junge erinnerte ihn sehr daran, wie Medivh früher gewesen war – nach Wissen hungernd, als wäre es ihm Speis und Trank. Und bei den Magiern war das womöglich tatsächlich der Fall. Er setzte zwar nach: „Versuch nichts anzufassen.“ Doch er gab sich keinen Illusionen darüber hin, wie ernst diese Anweisung genommen werden würde.

Moroes übernahm die Führung. Lothar wartete, bis sie einige Windungen der Treppe hinter sich hatten und garantiert außerhalb von Khadgars Hörweite waren. „Also empfängt er niemanden?“

Moroes zuckte die Schultern. „Die Welt war in Frieden.“

Wiederum eine Antwort, die nicht wirklich eine war. „Es gab noch andere Obliegenheiten. Die Überschwemmungen in Lordaeron. König Magnis Hochzeiten.“ Er lächelte ein wenig. Einst gab es eine Zeit, da hätten Medivh, Llane und er selbst sich keine so gute Gelegenheit auf feines Zwergenbier entgehen lassen. Dann schwand sein Lächeln. „Er hat sich einfach nicht sehen lassen.“

„Das stimmt“, bestätigte Moroes. Er schwieg einige Stufen lang, ehe er sagte: „Ich bin froh, dass du hier bist, Lothar. Es wird dem Wächter guttun, ein anderes freundliches Gesicht zu sehen als immer nur meins.“

„Hätte er das gewollt, hätte er mein Gesicht in den letzten sechs Jahren jederzeit sehen können“, sagte Lothar.

„Stimmt“, sagte Moroes wieder und vermied es ärgerlicherweise, jedwede Informationen preiszugeben, die Lothar tatsächlich irgendeine Erkenntnis hätten bringen können.

Verflucht, Lothar hatte ganz vergessen, wie hoch dieser Turm war. „Erzähl mir, was du kannst, Moroes“, sagte er. „Fang damit an, wer alles gegangen ist und warum.“

Das war ein gutes Thema, das es Lothar überdies erlaubte, seinen Atem während des scheinbar endlosen Aufstiegs nicht unnötig zu verschwenden. Moroes bewegte sich wie eine Gnomen-Maschine mit stetiger, gleichmäßiger Geschwindigkeit. Seine Ausdauer war scheinbar grenzenlos.

Die Bediensteten, die für die Versorgung von Gästen verantwortlich waren, hatten den Turm als Erste verlassen, berichtete Moroes ihm: die Mägde, die Lakaien und ein Großteil des Küchenpersonals. Medivh meinte, da er nicht beabsichtige, weiter Besucher zu empfangen, gebe es auch keinen Bedarf an Dienern. Aus demselben Grund gebe es keine Notwendigkeit für zusätzliche Pferde oder Jagdhunde. Der Herr von Karazhan hatte die Stallknechte und Hundeführer aus der vorhandenen Tierschar wählen lassen, ehe sie sich davonmachten, und auch das Gros der Reinigungskräfte und Gärtner war entlassen worden. Selbst das Vieh hatte man fortgeschickt; die wenigen Bewohner, die blieben, mussten sich mit ein paar Hühnern begnügen, die sie mit Eiern versorgten, und mit dem Gemüse aus den Gärten.

Und so war es weitergegangen. Lothar hörte zu – er konnte gar nicht anders; er war längst zu sehr außer Atem, um etwas zu sagen –, und sein Unbehagen nahm stetig zu, während Moroes seine Litanei über jene fortsetzte, die dem Turm von Karazhan den Rücken gekehrt hatten. „Die Buchkünstler waren die Letzten, die gingen“, schloss Moroes. Die Buchkünstler. Nicht die, die Nahrungsmittel anbauten oder zubereiteten oder den Turm in einem ordentlichen Zustand hielten. Lothar gefiel das Bild seines alten Freundes Medivh, das Moroes gezeichnet hatte, ganz und gar nicht.

„Heutzutage bleibt der Wächter die meiste Zeit über für sich“, sagte Moroes. „Doch dich zu empfangen kann er nicht verweigern. Genauso wenig kann er sich König Llane widersetzen. Nicht, wenn er gerufen wird.“ Lothar hatte sich unmerklich – jedenfalls hatte er das geglaubt – gegen die zentrale Säule der Wendeltreppe gelehnt, um wieder ein wenig zu Atem zu kommen. Moroes musterte ihn. Er atmete tief ein, bewegte seine Hände so, als wollte er Lothar anweisen, er möge es ihm gleichtun, sagte: „Hopp-hopp!“, und setzte seinen forschen Aufstieg fort.

Lothar blickte die scheinbar endlosen Stockwerke hinauf, die noch vor ihnen lagen, und in diesem Moment hätte er nichts lieber getan, als Moroes die Treppe hinunterzustoßen. Mit einem verhaltenen Keuchen starrte Lothar dem so viel älteren Mann, der unbeirrt höher stieg, nach, als wären seine Blicke Dolche. Doch als er ihm schließlich folgte, waren seine Knie weich.