Выбрать главу

Endlich erreichten sie die oberste Kammer des Turms von Karazhan. Der Raum war offen und luftig. Alkoven mit dem Auge der Kirin Tor wechselten sich mit Buntglasfenstern ab. Das bunte Licht vermischte sich mit der Helligkeit, die vom Mittelpunkt des Raums ausging – von der Quelle des Wächters. Wie ein sanft vor sich hin brodelnder Kessel blubberte das Becken und stieß gelegentlich einen Schwall blassblauen Dunstes aus; es war ein Quell von so mächtiger magischer Energie, dass Lothar nicht einmal darüber nachdenken wollte, wie mächtig er war. Eine Galerie verlief auf halber Höhe rings um die Kammer; man erreichte sie über zwei Treppen. Dort befand sich Medivhs Schlafstätte. Das alles hatte Lothar schon bei seinen vorherigen Besuchen in Karazhan gesehen.

Die Statue hingegen war neu.

Dabei war es eigentlich gar keine richtige Statue, zumindest noch nicht. Im Augenblick handelte es sich um kaum mehr als um einen grob menschenförmigen Tonklumpen, der fünf oder sechs Meter über dem leuchtenden Becken schwebte; das Licht warf wogende Ströme aus Weiß auf die braune, klumpige Oberfläche. Das Ding war stämmig, seine Gliedmaßen dick wie Baumstämme, mit einer undefinierbaren Beule an seinem gewaltigen Leib. Das klobige Etwas wurde von einem Gerüst aufrecht gehalten, an dem ein Gehstock mit einem geschnitzten Raben als Griff lehnte.

Und am oberen Ende der Leiter hockte der Schöpfer dieses „Kunstwerks“.

Der Wächter von Azeroth war zwar kleiner und schmaler als Lothar, aber immer noch groß und gut in Form. Schweiß und Lehm bedeckten seinen nackten Oberkörper, während er sowohl mit Werkzeugen als auch mit bloßen Händen an der Tonfigur arbeitete. Er stand mit dem Rücken zu den Neuankömmlingen, und seine Muskeln spannten und entspannten sich, während er unbeirrt in seinem Tun fortfuhr.

Ohne sich umzudrehen, fragte Medivh: „Hast du nach ihm geschickt, Moroes?“ Seine Stimme klang klar und kräftig und die Frage scheinbar beiläufig, doch ihr haftete ein fast unmerklicher, warnender Unterton an.

„Hat er nicht“, entgegnete Lothar, der nach dem irrsinnigen Aufstieg nicht zu schnaufen versuchte und kläglich damit scheiterte. Auf dem Tisch lag ein Klumpen Ton, in dem Lothar herumstocherte, während er weiterhin versuchte, wieder zu Atem zu kommen. „Also“, sagte er, „bist du jetzt unter die Bildhauer gegangen?“

Jetzt wandte Medivh sich um. Lothar war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. Der desolate Zustand des einstmals prächtigen Karazhan kam ihm in den Sinn, ebenso wie Moroes Geschichte über die Isolation seines Herrn, über sechs Jahre, in denen er keinerlei Kontakt zu irgendwem gehabt hatte … Doch Medivh sah aus wie … Medivh. Sein Haar – lang und locker und ungezügelt – hatte denselben sandfarbenen Braunton wie immer, und auch sein Bart war von derselben Farbe. Keine plötzlichen weißen Strähnen oder tiefe Furchen auf seiner Stirn, auch wenn das Gesicht des Wächters genau wie Lothars im Laufe der vergangenen Jahre einige Falten hinzugewonnen hatte. Seine Augen blickten müde, doch sein Leib war so kräftig und fit wie eh und je.

„Um ehrlich zu sein, erschaffe ich gerade einen Golem“, sagte Medivh im Plauderton. Er musterte seine Schöpfung einen Moment lang, bevor er zu einem Stück Draht zwischen zwei Holzgriffen langte und einen Kringel Lehm von der Schulter des Dings schnitt.

„Einen Golem“, sagte Lothar und nickte, als wüsste er ganz genau, was Medivh damit meinte.

„Einen Tondiener“, erklärte Medivh. „Normalerweise dauert es Jahre, bis die Magie den Lehm durchsetzt, aber hier oben …“ Er wies auf den Quell flüssiger weißer Magie. „… geht das viel schneller! Vielleicht kann er Moroes von Nutzen sein. Ihm bei der Hausarbeit helfen.“

„Es ist ja auch sonst niemand mehr da, der das tun könnte“, sagte Lothar unverblümt, während er von dem Diener dankbar einen Becher verdünnten Weins entgegennahm.

Medivh zuckte die Schultern, sprang leichtfüßig von der Leiter hinunter und griff nach einem Handtuch, um damit über seinen lehmbespritzten Oberkörper zu wischen, ohne dass es viel gebracht hätte.

„Ich mag die Stille.“ Einen Augenblick lang standen die beiden alten Freunde einander gegenüber und sahen sich an. Dann wurde Medivhs Antlitz weicher, ein aufrichtiges Lächeln spielte über seine Lippen, und seine Stimme wurde ganz warm. „Es ist schön, dich zu sehen, Lothar.“

„Du wurdest schmerzlich vermisst, alter Freund“, sagte Lothar. „Doch ich bin nicht gekommen, um in Erinnerungen zu schwelgen. Wir brauchen deine Führung, Medivh, und zwar sofort.“

Er zog den Ring mit dem königlichen Siegel ab, den Llane ihm gegeben hatte. Er hielt den ziemlich schweren Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und zeigte ihn Medivh. „Unser König verlangt nach dir.“

Eine subtile Maske der Regungslosigkeit verhärtete die Züge des Wächters, als er den Ring entgegennahm und ihn kurz betrachtete, wie er auf seiner Handfläche lag. Dann gab er ihn zurück. Lothar bemerkte, dass ein Lehmfleck daran war, und wischte ihn ab, bevor er ihn wieder an seinen Finger steckte.

„Wer ist der Junge, der unten wartet?“, fragte Medivh.

Der Junge, der unten wartete, war augenblicklich zufriedener als ein Schwein in der Jauchegrube.

Im Licht der Magie badend, hatte er die Zeit inzwischen dazu genutzt, um sich voller Freude in die Bücher der Bibliothek zu vertiefen. Er war gerade dabei, mit flinken Fingern eins davon durchzublättern, die Hände staubbedeckt, als er aus dem Augenwinkel heraus eine schemenhafte Bewegung ausmachte. Da wurde ihm schlagartig klar, dass er in Büchern stöberte, die ihm nicht gehörten – in Büchern, die tatsächlich im Besitz des Wächters von Azeroth waren –, und er schlug den Band hastig zu und stellte ihn schuldbewusst zurück ins Regal.

Am anderen Ende des Raums dräute eine Gestalt, so dunkel, dass sie fast mit den Schatten verschmolz.

Khadgar schluckte. „Hallo?“, rief er. Die Gestalt rührte sich nicht. Er trat zögernd einen Schritt vor. „Wächter?“

Jetzt bewegte sich die Gestalt und drehte sich ein wenig zur Seite, um sich einer Reihe von Büchern zuzuwenden. Sie hob eine schwarze Hand, streckte den Zeigefinger aus und deutete auf etwas. Dann trat die Gestalt vor, einen Schritt, einen zweiten – und verschwand in dem Regal.

Khadgar holte tief Luft und rannte danach los. Auf was hatte die Gestalt gezeigt, und wo war sie hin? Als er glaubte, in etwa die richtige Stelle erreicht zu haben, blieb er stehen und ließ den Blick über die Buchrücken gleiten. Sofern die Gestalt keine Sinnestäuschung gewesen war, musste es hier irgendeine Art Tür geben. Wie ging noch mal dieser Trick mit Büchern und Geheimtüren und verborgenen Räumen? Ach ja, ein bestimmter Band diente häufig als Hebel. Jedenfalls war das in den alten Geschichten immer so. Aber welches Buch kam dafür am ehesten infrage?

Mit Drachen träumen: Die wahre Geschichte der Aspekte von Azeroth? Eher unwahrscheinlich … aber interessant. Er zog das Buch aus dem Regal. Was die Titanen wussten? Vermutlich nicht … aber dennoch … Khadgar schnappte sich auch diesen Band. Durch Welten wandeln – also, dieser Titel hatte Potenzial.

Er hatte gerade die Hand danach ausgestreckt, als er ein Kribbeln an der Unterseite seines Unterarms spürte. Stirnrunzelnd stellte Khadgar die beiden Bücher an ihren angestammten Platz zurück und zog seinen Ärmel nach unten. Das Mal, das ihn einst als künftigen Wächter gekennzeichnet hatte, das Auge der Kirin Tor, leuchtete!

Überrascht wich Khadgar zurück, und das Leuchten und das warme, kribbelnde Gefühl schwanden. Er trat wieder vor, und sogleich begann das Mal erneut zu schimmern. Es … es war, als würde es ihn irgendwie leiten. Der junge Magier bewegte seinen Arm an der Reihe der Bücher hin und her – kühler, wärmer; beim Lichte, jetzt wurde es regelrecht heiß –