Da.
Der vorletzte Band auf dem Brett, schmaler und unscheinbarer als die meisten anderen Bücher hier. Als er ihn herauszog, stellte Khadgar fest, dass auf dem Einband kein Titel stand. Er hatte das Buch gerade aufgeschlagen, um vielleicht auf den ersten Seiten etwas zu finden, als er Schritte hörte.
Hastig verstaute Khadgar den Band in einer der in seinen Umhang eingenähten Taschen. Er atmete tief durch, umrundete die Ecke und …
„Und?“, forschte der Wächter von Azeroth. „Hast du dich gut umgesehen?“ Und seine Augen loderten blau.
6
Khadgar wurde von einer unsichtbaren Kraft von den Füßen gerissen und durch die Luft geschleudert. Er schrie und wand sich, und dann krachte er mit solcher Wucht gegen eins der Bücherregale, dass das massive Ding mehrere Schritte zurückglitt. „Nimmst schon Maß, hm?“, sagte Medivh, der auf Khadgar zumarschiert kam; seine Augen blitzten vor Zorn, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt. „Hast du bereits ein paar Ideen, wie du hier umdekorieren willst, sobald der Turm dir gehört?“
Lothar muss es ihm gesagt haben. Und natürlich muss er dann auf solche Gedanken kommen, dachte Khadgar. Er wusste, dass er schrecklich klug war. Manchmal konnte er allerdings auch schrecklich dämlich sein, wie Khadgar ebenfalls klar war.
„Wächter!“, rief er. „Ich habe meinen Schwur widerrufen!“
„Das hat man mir jedenfalls gesagt.“ Und offensichtlich scherte sich Medivh nicht das Mindeste darum. Der Wächter bewegte wie beiläufig einen Arm, und jetzt fand Khadgar sich mit dem Rücken zu der großen zentralen Wendeltreppe wieder. Wie ein auf ein Brett genageltes Insekt baumelte der junge Magier mehrere Meter über dem Boden, wo er hilflos mit Armen und Beinen wedelte, während er sich gegen die unsichtbare Macht zu wehren versuchte, die ihn gnadenlos festhielt.
Medivh musterte Khadgar und schnaubte verächtlich. „Erbärmlich“, sagte er mit vor Geringschätzung triefender Stimme. Er hob lässig eine Hand, und der Druck, der auf Khadgars Brust lastete, nahm weiter zu. Die Furcht des Jungen eskalierte, als ihm klar wurde, dass er kaum noch atmen konnte.
Dennoch musste er reden. „Ich wollte nicht hierherkommen! Ich schwöre es, Wächter! Ich habe sie lediglich dazu gedrängt, dich aufzusuchen!“
Er warf Lothar einen verzweifelten Blick zu. Der große Mann stand einfach mit verschränkten Armen da und schaute zu. Warum sprach er denn nichts? „Ich sagte ihnen, dass Ihr derjenige sein solltet, der ihnen erklärt, was …“
„Der ihnen was erklärt?“
Khadgar spürte, wie sein Herz gegen den Käfig seiner Rippen donnerte. Schon begann sich sein Blickfeld zu trüben. Er kämpfte um einen weiteren Atemzug und schaffte es, ein einzelnes Wort hervorzubringen:
„Fel-Magie!“
Schlagartig schwand der Druck. Khadgar stürzte schwer auf den Steinboden und keuchte, als wieder Luft in seine Lungen strömte.
„In Azeroth?“, forschte Medivh und kam mit großen Schritten zu ihm herüber. Khadgar bewegte sich behutsam, zuckte aber dennoch vor Schmerzen zusammen. Gebrochen war nichts, auch wenn er einige prächtige Blutergüsse davontragen würde. Er blickte zu dem Wächter auf, der mit grimmiger Miene auf ihn herabstarrte.
„In der Kaserne“, ächzte Khadgar, noch immer ganz außer Atem. „Bei einer der Leichen.“
„Wächter“, unterbrach Lothar sie. „Was ist diese Fel-Magie?“
Medivh wandte seine Augen keine Sekunde von Khadgar ab. „Eine Magie wie keine andere“, sagte er leise. „Sie nährt sich vom Leben selbst. Sie besudelt den, der sie anwendet, und vergiftet alles, was sie berührt. Sie verspricht große Macht – doch der Preis dafür ist grauenvoll. In Azeroth ist kein Platz für Fel-Magie.“
Er verstummte, und Khadgar hatte einen sehr langen Moment Zeit, um sich zu fragen, ob es die richtige Taktik gewesen war, die Fel-Magie ins Gespräch zu bringen, und ob Medivh ihn wohl vom Turm werfen oder einfach in ein kleines Nagetier verwandeln und an eine Katze verfüttern würde?
Schließlich nickte Medivh einmal. „Du hast das Richtige getan.“ An Lothar gewandt sagte er: „Ich komme mit.“ Mit fliegenden Schößen seiner purpurnen Robe marschierte er an Khadgar vorbei, ohne den jungen Mann noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Lothar indes trat vor und streckte Khadgar die Hand hin, doch als der Magier danach griff, zog Lothar sie zurück und folgte dem Wächter. Khadgar dachte an all die Zaubersprüche, die er in diesem Moment gern gewirkt hätte, und an das, was sie mit Lothar anstellen würden, während er sich schwerfällig allein aufrappelte.
Lothar band die Zügel der Greifin sorgsam fest, sodass sie sich nicht ohne Weiteres lösen würden, und justierte sie so, dass sie zwar straff, aber bequem um ihren gefiederten Hals lagen. Er streichelte ihren Kopf, und sie krächzte leise vor Wohlbefinden. Die Greifin war eine verlässliche Gefährtin, und sie hatte ihm geholfen, Khadgar einen ordentlichen Schrecken einzujagen. Lothar würde sie vermissen.
Er nahm die Hand fort, und sie öffnete fragend die goldenen Augen. „Ab nach Hause mit dir.“ Lothar klopfte ihr zweimal auf den Schnabel. Die Greifin schüttelte sich, plusterte Fell und Federn auf, streckte sich wie eine Katze und sprang mit einem Satz himmelwärts, bis sie Wind unter den Schwingen hatte. Sie würden sie zurück zu ihrem Horst in Sturmwind tragen, zu einem wohlverdienten Mahl und einem geruhsamen Schlaf.
Er verfolgte einen Moment lang, wie die Greifin davonflog, und beneidete sie um die Einfachheit ihres Lebens im Vergleich zu seinem, in dem es gerade drunter und drüber ging. Dann wandte er sich um und ging auf die drei Magier zu. Medivh, der jetzt einen mit Rabenfedern besetzten Kapuzenumhang trug, hatte am Boden alle vier Himmelsrichtungen mit Symbolen markiert und zog gerade mit dem Ende seines Stabs einen Kreis, der sie verband. Der Linie des Stabs folgte das blassblaue Licht arkaner Magie und entflammte die Runen. Khadgar beäugte den Wächter unsicher, während Medivh sein Werk verrichtete; Moroes indes stand ein paar Schritte abseits und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Schließlich blickte Medivh von seinem Tun auf und grinste ob der Miene des Jungen.
„Das bringen sie einem in Dalaran nicht bei.“
„Teleportation?“ Khadgar schüttelte den Kopf. „Nein.“ Sein Blick kehrte zu den Symbolen zurück.
„Und sie tun recht daran, diese Kunst zu fürchten“, fuhr Medivh fort. Er sah Khadgar erneut an, und seine Augen funkelten. Das macht ihm Spaß, dachte Lothar. „Sie ist ausgesprochen gefährlich.“ Er nahm die Magie mit geschickten Fingern auf, hielt sich die Hand über den Kopf und ließ den Arm dann mit einer raschen, präzisen Bewegung nach unten sausen. Die leuchtenden Schlieren, die er eingesammelt hatte, schossen empor und vereinten sich miteinander, um eine Kuppel knisternder Helligkeit zu bilden. Der blaue Schimmer zeichnete ein scharfes Relief seiner Züge, während Medivh auf den Jungen deutete. „Nur zu. Tritt ein.“
Khadgar zögerte.
„Komm schon“, spöttelte Medivh fröhlich. „Wo bleibt dein rebellischer Kampfgeist?“ Die Wangen des Jungen färbten sich unter seinem dürftigen Gesichtshaar rosa, als er der Aufforderung nachkam, allerdings nicht ohne offenkundige Beklommenheit.
Lothar selbst musste sich ein Lächeln verkneifen, als er nach Khadgar in den Kreis trat. Angesichts des Umstands, wer er war – ein künftiger Wächter, oder zumindest hatte man ihn dafür ausgebildet –, war es fast zu einfach, ihn aus dem Konzept zu bringen.
Sobald Lothar seine beiden Füße ins Innere des Kreises gesetzt hatte, verschwand alles um sie herum: die Ställe, der Turm, sogar der Boden unter ihnen. Khadgar blieb kaum genügend Zeit für ein überraschtes Keuchen, bevor andere Eindrücke an ihre Stelle rückten: polierter weißer Stein anstelle brauner Erde, das Blau und Gold von Fahnen, das Schimmern metallener Rüstungen …